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COMIC!-JAHRBUCH 2017

Bester Kurzcomic:
"Libretto 1" von Ferdinand Lutz

Interview von Alexander Christian


Ferdinand Lutz (*1987 in Heppenheim) ist ein deutscher Comiczeichner, Szenarist und Trickfilmer, der in Köln lebt und arbeitet. Für seine pointierte Wiedergabe eines Generationenkonflikts bei Pinguinen, hervorgerufen durch die Folgen des Klimawandels, wurde Lutz im Jahr 2007 mit dem Deutschen Cartoonpreis ausgezeichnet. Seine Comics erscheinen heute regelmäßig in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. schreibt Ferdinand Lutz Szenarios für die Comic Strips von "Käpt’n Blaubär", die dann von Hansi Kiefersauer zeichnerisch umgesetzt werden.

Die Abenteuer des 122-jährigen Außerirdischen Q-R-T mit seinem formwandelnden Haustier Flummi wurden von 2011 bis 2016 als Fortsetzungsgeschichte in der Kinderzeitschrift Dein SPIEGEL abgedruckt. Der Berliner Verlag Reprodukt veröffentlichte dazu im Jahr 2015 den ersten Sammelband "Q-R-T: Der neue Nachbar", mit "Q-R-T: Flummi allein zu Haus" ist bereits ein Folgeband in Vorbereitung. Bei Dein SPIEGEL geht es aktuell mit Episoden um die beiden Geschwister "Rosa und Louis" weiter.
Unter dem Label "Quantity Books" hat Ferdinand Lutz außerdem damit begonnen, experimentelle Comics im Eigenverlag herauszugeben. In der ersten Ausgabe seines kleinformatigen Zines "Libretto" verbindet Lutz abstrakte Bildfolgen mit einer konkreten Geschichte. Wenn rätselhafte Formen, die an Zellbestandteile erinnern, in einem italienischen Dorf zum Lottospielen zusammenkommen, dann sprühen die zeitlich präzise abgepaßten Dialoge vor absurdem Humor. Das überzeugte nicht zuletzt auch die Jury des ICOM Independent Comic Preises 2016.


COMIC!: Im Klappentext von "Libretto 1" stellst du deinen Comic in den Kontext von "Abstract Comics: The Anthology". Der Kunsthistoriker und Künstler Andrei Molotiu hatte diese Sammlung im Jahr 2009 herausgegeben und damit gleichzeitig eine Form von Comic definiert, bei der abstrakte graphische Ausdrucksformen wie in Comic Strips zu Sequenzen verbunden werden. Wie bist du auf dieses Thema aufmerksam geworden, und was macht in deinen Augen den besonderen Reiz solcher abstrakter Comics aus?

Ferdinand Lutz: Auf abstrakte Comics allgemein aufmerksam geworden bin ich wohl erstmals durch Lewis Trondheims "Bleu". Ich fand das im besten Sinne des Wortes nett, aber auch nicht mehr. Man sieht dort eine Form, die immer und immer wieder eine andere Form aufißt oder selbst aufgegessen wird. Erneut aufmerksam auf abstrakte Comics wurde ich dann durch diverse Tumblr-Seiten junger Illustrationsstudenten, die sich ja mittlerweile verstärkt dem Medium Comic zuwenden. Das ist deshalb spannend, weil deren Schwerpunkt im Graphischen, nicht aber im Erzählerischen liegt. Als ich diese abstrakten, oft non-narrativen Sequenzen gesehen habe, waren sie zwar stilvoll und hübsch anzusehen, mir fehlte aber immer ein bißchen der doppelte Boden, der gedankliche Überbau; es war mir oft einfach ein bißchen zu beliebig.

COMIC!: Aus welchen Überlegungen heraus hast du dann bei "Libretto 1" solch abstrakte Formen mit einer sehr greifbaren Geschichte verbunden?

Ferdinand Lutz: Den finalen Auslöser für "Libretto 1" hat eine Ausstellung in der Kunstsammlung Düsseldorf gegeben: "Miró. Malerei als Poesie" [13.06. bis 27.09.2015, Anm. d. Red.]. Miró hat ja auf seine abstrakten Bilder oft noch einen Satz geschrieben, der sehr konkret, sehr speziell war. Das war für mich die Schlüsselerkenntnis: Das Abstrakte mit dem Konkreten zu verbinden. Die Anthologie von Molotiu habe ich in meinem Klappentext dann stellvertretend für jene abstrakten Comics erwähnt, von denen ich mich mit "Libretto 1" ein wenig absetzen wollte.

COMIC!: Ich freue mich gerade richtig, daß du Joan Miró angesprochen hast. Die abstrakten Formen seiner Bildsprache haben mich in gewisser Weise schon während meiner Grundschulzeit seltsam fasziniert. Im Essener Museum Folkwang durften wir einmal im Anschluß an eine Führung unsere Erlebnisse mit der Schulklasse gemeinsam auf so einer großen Papierrolle festhalten. Diese organisch geschwungenen Urformen von Miró hatten sich fest bei mir eingebrannt, ohne daß ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, was das nun alles zu bedeuten hat. Ähnlich verblüfft haben mich deine Gebilde in "Libretto 1", die mich an eine Mischung aus Miró und unter dem Mikroskop betrachtete Zellbestandteile erinnern. Mit welcher Systematik bist du an diese Arbeit herangegangen?

Ferdinand Lutz: Interessant, daß dich das so markiert hat. Ich muß gestehen, daß mich Miró als Kind sehr kalt gelassen hat, mein etwas älterer Bruder hingegen eine regelrechte Obsession für ihn hatte. Die Geschichte in "Libretto 1" habe ich tatsächlich aufgeschrieben, ohne zu wissen, daß es ein abstrakter Comic werden würde. Wenn ich Workshops gebe, sage ich den Kindern immer: Für mich ist die Geschichte das Allerwichtigste. In welcher Form sie dann erzählt wird, ist zwar auch wichtig, aber das kommt aus meiner Sicht in einem zweiten Schritt. Daß meine Geschichte eine abstrakte Geschichte werden würde, wurde mir erst im Museum klar. Dann habe ich den Text noch einmal dahingehend überarbeitet und mir eine Bildsprache dafür überlegt. Dabei hat sich irgendwie alles auf wundersame Weise zusammengefügt.

COMIC!: Bei Trondheims "Bleu" kommt der experimentelle Charakter von abstrakten Comics sehr deutlich zum Ausdruck. In Anlehnung an Josef Albers’ Experimente zur Wirkung von Farben und Formen ließe sich fast schon von einer Hommage an den Klecks sprechen. Die Formen interagieren bei Trondheim miteinander und geben immer wieder Anlaß zu neuen Veränderungen der Farben und Formen. Es passiert einerseits unheimlich viel, aber was wir da in Trondheims Variationen genau sehen, läßt sich andererseits nur schwer nachvollziehen und in Worte fassen.

Ferdinand Lutz: Genau, in "Bleu" passieren Dinge, die keine wirkliche Entsprechung in unserem Alltag finden. Das ist natürlich eine Qualität für sich. Auch ein Bild von Kandinsky kann mich berühren, eben weil ich keine Entsprechung dafür finde und etwas Uneindeutiges thematisiert wird. Ich habe bei mir selbst jedoch beobachtet, daß mich jene Arbeiten deutlich mehr bewegen, die in mir etwas Konkretes ansprechen, etwas, das ich vergessen habe oder dessen ich mir zuvor nie derart klar bewußt war. Damit dies möglich ist, müssen die Arbeiten schon einen kleinen Strohhalm hinüber ins Konkrete anbieten – eben wie Miros Sätze. Darüber hinaus interessiert mich sehr das Sinnstiftende von Geschichten – letztlich versuche ich in all meinen Geschichten auszuloten, wann eine Geschichte ein sinnhaftes Ganzes ergibt. Die Möglichkeit, die Formen und Figuren dechiffrieren zu können, potenziert dieses sinnstiftende Element noch.

COMIC!: Die Bildfolgen von Trondheims "Bleu" wirken durch ihre Variationen von Form und Farbe rhythmisch. Im Grunde genommen läßt sich eine Ähnlichkeit zu den wesentlich älteren experimentellen Animationsfilmen von Oskar Fischinger ("An Optical Poem") oder Norman McLaren ("Boogie Doodle") spüren. Könnte es bei Abstract Comics nicht noch stärker um die Auslotung einer rhythmischen Dynamik gehen?

Ferdinand Lutz: Rhythmus ist im Medium Comic auf jeden Fall ein ganz zentrales erzählerisches Gestaltungsmittel. Bei "Bleu" finde ich ihn durchaus, eben in der Wiederholung von Ähnlichem. Aber natürlich gibt es auch da noch viel, viel Raum für Experimente.

COMIC!: So wichtig Freiräume für Experimente gerade in der Ausbildung sind, stehe ich selbst häufig ratlos vor solchen Arbeiten. Trotzdem wünschte ich mir, daß zumindest einige der Ansätze stärker aufgegriffen würden. Fallen dir Anwendungsmöglichkeiten oder konkrete Beispiele von abstrakten Sequenzen ein, die in herkömmliche narrative Comics eingebaut sind?

Ferdinand Lutz: Spontan fällt mir Lorenzo Mattotti ein. In "Feuer" z. B. gibt es eine Seite, auf der die Natur der Insel sehr abstrakt dargestellt wird, erst indem Mattotti ein paar kleine Männchen daneben stellt, kann man das richtig verstehen. Aber das Einbetten von abstrakten Sequenzen in eine "herkömmliche" Erzählung ist für mich ganz logisch der nächste Schritt, den ich gehen möchte. Das Projekt heißt "Schubert".

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November 2016
Format: DIN A4
Umfang: 224 Seiten, davon 60 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-947-8
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