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COMIC!-JAHRBUCH 2016

Herausragendes Szenario:
"The Right Here Right Now Thing"
von Paulina Stulin

Interview von Björn Bischoff

Eine Nacht im Rausch, voller Momente, an die sich die Menschen für immer erinnern wollen: Paulina Stulin liefert mit "The Right Here Right Now Thing" einen Comic ab, in dem sie viel unausgesprochen läßt und gerade dadurch mit ihrer eigenen Stimme erzählt. Die Geschwindigkeit dreht sie ihrer Handlung in den richtigen Momenten ab, zieht wieder an oder läßt den Leser einfach in der Atmo-sphäre versinken.
Die Erzählerin trifft in ihrem Comic in den wenigen Stunden dieser Nacht in Krakau einen mysteriösen Fremden, der kein Gesicht hat. Stulin baut dafür eine unromantische Romantik, die sie völlig befreit hat von Jahrzehnten voller Liebesversionen aus Hollywood. Die 30jährige Zeichnerin aus Darmstadt spricht im Interview von ihrer inneren Spießerin, der Flüchtigkeit der Dinge und warum es eine gute Idee ist, wenn sich die Hauptfigur in der ersten Szene ein mit Drogen gefülltes Kondom vaginal einführt.


COMIC!: Wann hattest du die Idee zu "The Right Here Right Now Thing"?

Paulina Stulin: Das war im Oktober 2013, nachdem ich mit ein paar Freunden das Unsound-Festival in Krakau besucht habe. Eines der seltenen Male, in denen ich das erlebte, was man "von der Muse geküßt werden" nennt. Zuhause angekommen betrank ich mich dann heftig und preßte innerhalb einer zehnstündigen Schreibsession die Rohversion des Skriptes aus mir heraus.

COMIC!: Wie lange hast du dann letztendlich gebraucht, die Idee in einen Comic umzusetzen?

Paulina Stulin: Ziemlich genau sechs Monate, in denen ich kaum etwas anderes gemacht habe. Da ich zu der Zeit von HartzIV lebte, könnte man sagen, daß das miserable deutsche Sozialsystem mir, ohne es zu wollen, ein Stipendium für dieses Buch gewährt hat.

COMIC!: Von der Geschichte her fühlt sich dein Comic wie eine Novelle an – war das Absicht?

Paulina Stulin: Hm, schade, ich wollte eigentlich, daß sich der Comic wie ein Lied anfühlt – also nein.

COMIC!: Warum spielt die Geschichte dann in einem so engen zeitlichen Rahmen?

Paulina Stulin: Die erzählte Zeit beträgt ja ziemlich ge-nau einen Tag – neben dem Augenblick eines der Intervalle, in die man seine Gegenwart gliedert. Eine gute Portion Zeit. Außerdem schwirrte mir während der Entstehung beständig Stefan Zweigs Buchtitel "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" im Sinn, was ich als Bekräftigung meiner Intuition deutete, diesen Rahmen zu wählen.

COMIC!: In deinem Comic gibt es einen mysteriösen Fremden, der jedoch kein Gesicht, sondern nur eine Gestalt hat. Warum?

Paulina Stulin: Das hat mehrere Gründe. Zum einen entsprang dieser Entschluß einer Frustration, die ich beim Lesen der Flirtszene in Dave McKeans "Cages" empfand: Trotz ihrer brillanten Umsetzung konnte ich nicht gänzlich in ihr aufgehen, da ich den Typen arg unattraktiv fand. Mir war es ein Anliegen, den Lesern das Mitverlieben möglichst leicht zu machen.
Zudem bestärkt das Fehlen seines Antlitzes die Rätselhaftigkeit des Charakters, was ihn in meinen Augen umso reizvoller macht.

COMIC!: Warum geht die Geschichte mit dem mysteriösen Fremden nicht weiter? Warum läßt du die Beziehung der beiden Figuren nach einer Nacht enden?

Paulina Stulin: Vielleicht ein bißchen, um Werbung dafür zu machen, nicht zwanghaft an Menschen, Situationen und Ideen klebenzubleiben. Ist doch wesentlich romantischer, eine Liebelei im richtigen Moment loszulassen, anstatt sie in immer seltener werdenden E-Mails versiegen zu sehen.

COMIC!: Hattest du denn nie den Wunsch, noch tiefer in die Psyche deiner Figuren einzusteigen?

Paulina Stulin: Es war eine bewußte Entscheidung, die Charaktere ausschließlich darüber zu porträtieren, was sie in dieser kurzen Zeit sagen und tun, und nicht über das, was sie bisher gesagt und getan haben. Der Leser lernt die Verliebten somit nahezu auf dieselbe fragmenthafte Weise kennen wie sie einander.
Der Verzicht für Erklärungen und nähere Beschreibungen basiert wohl auf meiner allgemeinen Vorliebe für kurzgeschichtenhaftes Erzählen, das dem Leser durch gekonntes Andeuten und Weglassen Lust macht, aus den hingeworfenen Häppchen ein stimmiges Bild zusam---men-zupuzzeln.

COMIC!: Handelt es sich bei dem mysteriösen Fremden eigentlich um eine Allegorie?

Paulina Stulin: Ja und nein.

COMIC!: Wie bist du überhaupt auf die Figur gekommen?

Paulina Stulin: Sie ist ein Knäuel aus allen Menschen, in die ich mich bisher verliebt habe.

COMIC!: Also Vergangenheitsbewältigung? Gibt es Leute, die sich wiedererkennen könnten?

Paulina Stulin: Weniger Bewältigung als eine Hommage an besagte Personen. Und ja.

COMIC!: Wer ist denn die Sängerin in dem Club?

Paulina Stulin: Ach, bloß die gezeichnete Erinnerung an eine Karaoke-Queen, die ich mal in Krakau erlebt habe.

COMIC!: Warum hast du Krakau als Schauplatz gewählt? Gibt es etwas, das dich an der Stadt besonders fasziniert?

Paulina Stulin: Ich habe dort 2010 ein Semester an der Kunsthochschule studiert und bin seither ein Fangirl dieses Fleckchens Erde. Dort zu sein, befriedigt einen gewissen Kitsch in mir.
Ähnlich wie Dresden und Prag besticht die Stadt durch ihren Architektur-Cocktail aus uraltem Geschnörkel und pragmatischen Kastenbauten. Sie vereint todernste Hochkultur mit grellem Prolo-Trash, ist harsch ohne unschnuckelig zu sein, und alles scheint in romantischen Dreck getunkt. Außerdem kommen mir die Bewohner der Stadt auf elegante Weise kaputter vor als anderswo. Wie zum Beispiel der alte Herr, den ich einmal dabei beobachten durfte, wie er Anzug tragend und weiß-behandschuht im Müll nach halb aufgerauchten Kippenstummeln stöberte, um seine Fundstücke auf einen divenhaften Zigarettenhalter zu stecken und in würdevoller Traurigkeit zu rauchen.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2016
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www.paulinastulin.de

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Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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