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COMIC!-JAHRBUCH 2016

Fumetto: ein vitaler Kranker
Der Comicmarkt in Italien

Von Giovanni Remonato

Die Lage der italienischen Fumetti ist interessanterweise der wirtschaftlichen Situation des Landes sehr ähnlich: Es herrscht ständige Krise, um es mit
einem Satz zusammenzufassen. Nichts Neues, schon 2001 sowie vor zwei Jahren berichtete das Comic!-Jahrbuch über den langsamen und stetigen Verlust der Fumetti an Lesern. Der negative Trend hat sich leider auch in den letzten zwei Jahren fortgesetzt. Dennoch ist die Comicszene in Italien nie so lebendig gewesen. Es wurden noch nie so viele Titel wie im Jahr 2014 veröffentlicht. Der italienische Markt unterliegt paradoxen Regeln: je weniger Leser, desto mehr Produktionen.

Der Kulturbetrieb befindet sich in Italien in großen Schwierigkeiten. Italiener lesen durchschnittlich viel weniger als Menschen anderer EU-Länder. Die wirtschaftliche Krise hat diese Situation nochmals verschärft. Man rechnet, daß in den letzten vier Jahren ca. 30–35 % weniger Bücher verkauft wurden. Viele kleine und mittelgroße Verlage befinden sich in Schwierigkeiten. Laut einer Untersuchung der AIE (Associazione Italiana Editori) werden 40 % von diesen die Krise nicht überleben. Doch auch die größeren Konzerne müssen neue Strategien entwickeln, um den Konkurs zu vermeiden. Ende Juli hat Mondadori (Italiens größter Verlag) RCS Libri (dem zweitgrößten Verlag) ein Angebot für dessen Übernahme gemacht. Zusammen kontrollieren die zwei Gruppen ca. 40 % des italienischen Buchmarkts. Beide Verlage haben auch Interesse an Comics; Mondadori mit Mondadori Comics und RCS Libri mit Rizzoli Lizard. Andere Experten sind der Meinung, der Verlust an Lesern sei weniger mit der Krise verbunden, sondern entspricht einer Veränderung der Gewohnheiten und des Geschmacks der jüngeren Generationen, die andere Unterhaltungsformen bevorzugen (Videogames, Internet, usw.). Trotz der schwierigen Prämissen zeigt der Comicbetrieb eine gewisse Lebendigkeit. Die wichtigste Comicmesse Italiens, Lucca Comics and Games, registriert jedes Jahr einen neuen Besucher-Rekord. Einem Großteil der Verlage geht es finanziell gut, sie verzeichnen sogar kleine, aber wichtige Gewinne. In einem Interview für das Comic!-Jahrbuch 2016 meinte der Kritiker und Comicexperte Adriano Ercolani (Mitarbeiter von Repubblica-XL und Fumettologica), «Comics erleben einen Aufschwung. Der Comicmarkt ist eine blühende Nische innerhalb des Kulturbetriebs. Es gab in den letzten Jahren einige wichtige Signale: der kommerzielle Erfolg von Zerocalcare und dessen ‹literarische› Anerkennung. Wie vor einem Jahr der Zeichner Gipi wurde Zerocalcare für den Strega-Literaturpreis nominiert. Andere Signale sind die Revitalisierung des Bonelli-Verlags, der seine Türen für Autoren aus der Independent-Comic-Szene geöffnet hat. Schließlich ist auch der Erfolg von Autoren, die ihre Werke selbst produziert haben (Autoren wie Tuono Pettinato und Rathiger, sowie innovative Projekte wie ‹Lùmina›) zu nennen.» Im Folgenden werde ich auf diese verschiedenen Aspekte, die Adriano Ercolani eingeführt hat, näher eingehen.


Sergio Bonelli Editore

Bonelli ist der größte und wichtigste Comicverlag Italiens. Die Geschichte dieses Familienbetriebs ist faszinierend. In den 40er Jahren übernahm Gian Luigi Bonelli die Comiczeitschrift L’Audace und gründete den Verlag Redazione Audace, der später von seinem Sohn zu Sergio Bonelli Editore unbenannt wurde. Gian Luigi Bonelli war der Erfinder des noch bis heute wichtigsten Charakters der italienischen Fumetti, des Cowboys Tex (gezeichnet von Aurelio Galleppini). Gian Luigis Sohn Sergio führte das Unternehmen seit den 60er Jahren bis zu seinem Tod 2011. Er schaffte es, den kleinen Familienbetrieb zu einem der wichtigsten Comicverlage der Welt zu entwickeln. Unter seiner Führung wurden Serien wie «Dylan Dog», der Ermittler der Alpträume (vom Autor Tiziano Sclavi) eingeführt, die in den 90er Jahren Verkaufsrekorde erreichten. Die Comics von Bonelli versprechen Abenteuer. Meistens fokussiert jede Serie einen Charakter, der den Namen der gesamten Serie vorgibt. Darüber hinaus sind Bonelli-Comics auch an ihrem Format sofort erkennbar. Mit «Bonelli-Format» bezeichnet man Comichefte, die 16 x 21 cm groß sind, ca. 96 Seiten dick, broschiert und im Schwarzweiß-Druck.

Seit dem neuen Millennium verzeichneten die Comics von Sergio Bonelli Editore einen Rückgang der Verkaufszahlen. Die Comics des mailändischen Verlags haben ein sehr treues Publikum, sprechen aber jüngere Generationen weniger an. So verkauften 2014 die zwei wichtigsten Bonelli-Serien («Tex» und «Dylan Dog») etwa 300.000 Exemplare im Monat (siehe Graphik), eine sehr gute Leistung. Doch diese Zahlen sind nichts im Vergleich mit der Verkaufsquote der selben Serien in den 90er Jahren. 1986 wurden monatlich knapp eine Million Exemplare von «Dylan Dog» verkauft. Mauro Mancheselli, Mitarbeiter von SBE, meinte in einem Interview für die Internet-Zeitschrift Fumettologica: «Für uns leidet der Markt seit vielen Jahren. Ihr könnt es Krise nennen oder wie ihr wollt. Tatsache ist, daß sich unser Publikum ständig verringert, Jahr um Jahr. Dieses Phänomen betrifft alle unsere Produktionen. Der verzeichnete Rückgang liegt durchschnittlich zwischen 3 und 5 % im Jahr.»

Sergio Bonelli, der ehemalige Präsident des Verlages, war bekanntlich den «neuen» Medien gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Er hat sich immer Adaptionen seiner Comics in Filmen oder Fernsehserien verweigert. Nun beschloß der neue Präsident des Verlages, die Strategie zu ändern. Davide Bonelli, Sohn von Sergio Bonelli, hat langsam begonnen, den Verlag zu revolutionieren. Erstens hat er die Marketing Abteilung umgestellt. Bis vor kurzem hat der Verlag für seine Produkte keine Werbung gemacht. Mittlerweile ist es anders: Der Verlag hat z. B. die neue Serie «Orfani» (Szenario von Roberto Recchioni, Zeichnungen von Emiliano Mammuccari) 2013 mit großem Aufsehen beworben. Seit ca. einem Jahr hat der Verlag seine Internet-Seite erneuert und ist auch in den sozialen Medien vertreten. Jede Comicserie von Sergio Bonelli Editore hat nun eine Facebook-Seite, auf der Autoren mit ihnen Fans interagieren. 2013 wurde die neue Serie «Dragonero» – von Stefano Vietti und Luca Enoch – cross-medial konzipiert, mit einer Facebook-Seite, einem Blog, einer App für das Handy (mit einer 3D Mappe der Fantasy-Welt von «Dragonero») und einem Rollenspiel. Darüber hinaus hat Stefano Vietti auch einen Roman bei Mondadori veröffentlicht, der eine Art Spin-off von «Dragonero» ist. Um diese vielen Produktionen zu koordinieren, hat Davide Bonelli eine neue Abteilung geschafft: Property Business Development. Unter der Leitung von Vincenzo Sarno beschäftigt sich dieser neue Zweig des Verlages mit der Entwicklung von neuen Projekten für Filme, Fernsehserien, Animationsserien, Merchandising usw. Das erste Produkt der neuen Abteilung in Zusammenarbeit mit Rai.com ist der Motion-Comic von «Orfani». Es handelt sich um eine hybride Kombination von Comics und Animation. Die einzelnen Comicseiten oder Panels werden gefilmt. Dazu werden Audio- und Bewegungseffekte hinzugefügt. Regisseur der Motion-Comic-Episode von «Orfani» ist Armando Traverso, der bereits Erfahrung mit der Bonelli-Welt hat. Er schrieb zwei Hörspiele für das Radio. In dem einem ging es um Dylan Dog, das andere handelte von Tex. Das zweite war lange der am meisten heruntergeladene Podcast von Radio 2. Die neue Politik von Bonelli umfaßt auch den Verkauf in Buchhandlungen. Früher wurden die Bonelli-Comics nur an Kiosken verteilt, Nachdrucke im Buchformat wurden von anderen Verlagen (BAO Publishing oder Panini Comics) übernommen. In Zukunft sollen aber auch solche Produkte unter der direkten Kontrolle von Sergio Bonelli Editore in Buchhandlungen erscheinen.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2016
Links zum Artikel

www.wired.it

Adriano Ercolani (Mitarbeiter von Fumettologica)

Zusammenarbeit mit Rai.com: der Motion-Comic «Orfani» von Roberto Recchioni und Emiliano Mammuccari

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Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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