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COMIC!-JAHRBUCH 2016

Gerhard Seyfried

Von Achim Schnurrer


Die Luft da oben wird ganz schön dünn. Besonders wenn man gar kein Bergsteiger ist und gerne raucht. Die Rede ist allerdings nicht von Hochgebirgen wie dem Himalaya, sondern von jenen Regionen, deren Höhenlinien durch nüchterne Auflagen- und Verkaufszahlen gekennzeichnet werden. Die Anzahl der Comic-Zeichner aus dem deutschsprachigen Raum, deren Bücher und Alben so häufig über den Ladentisch gehen, daß mehr als hunderttausend Exemplare eines eigenständigen Titels ihre Käufer finden, ist überschaubar. Da fallen einem spontan Namen wie Ralf König, Walter Moers oder Brösel ein, wenn man nicht noch tiefer in der Vergangenheit graben und Zeichner wie Hansrudi Wäscher und seine Erfolgsserien aus dem Lehning-Verlag bemühen will. Bei den Cartoonisten sieht es vielleicht etwas besser aus.

Einer der gleichermaßen für Comic und Cartoon steht und in diese Riege gehört, ist Gerhard Seyfried, der sich wahrscheinlich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, in eine Art All-time-Bestsellerliste gepackt zu werden, denn genau darauf – nämlich den kommerziellen Erfolg – kam es ihm nie an. Klar, er will von seiner Arbeit leben, gerne auch gut leben, aber viel wichtiger ist ihm, daß die Aussagen, die er mit seinen Zeichnungen trifft, pointiert genug sind, um von jedem verstanden zu werden. Auch und gerade von denen gegen die sich sein Witz und seine Kritik richten.

Es ist ohnehin schwierig, ihn auf ein Sujet, ein Genre, eine Form des künstlerischen Ausdrucks festzulegen. Denn neben Comics und Cartoons veröffentlicht er seit etlichen Jahren mit ebenso beachtlichem Erfolg historische Romane, die – in der Regel ganz unkomisch, aber dafür sehr spannend – vor allem durch ein verblüffendes Detailwissen und fundierte Recherchen bestechen, was ihm neben guten Kritiken auch hier eine treue Leserschaft eingebracht hat. Das sind dann Menschen, die oft gar nicht wissen, daß dieser Seyfried auch lustige Bilder zeichnet. Hier soll es um den Graphiker gehen, doch es ist nicht verkehrt, sein Werk auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß bei den Comics und Cartoons, die er seit Jahrzehnten zu Papier bringt, immer auch ein Autor zugange ist.

Geboren 1948 in München machte Gerhard Seyfried eine Lehre zum Industriekaufmann. Davor standen Schulverweise, Rauswürfe und von Kindheit an die Lust am Zeichnen, deren Ergebnisse erstmals in der Schülerzeitung veröffentlicht wurden. Obwohl er kein Abitur vorweisen konnte, wurde er wegen seines außergewöhnlichen Talents – so die Münchener Akademie für das Graphische Gewerbe – an der Hochschule angenommen. Zwei Jahre später, 1969, wurde er dann wegen «mangelnden Talents» wieder aus der Akademie relegiert. In Wahrheit erfolgte der Rauswurf, weil er sich für einen Streik gegen die Notstandsgesetze engagiert hatte.

Die Notstandsgesetze, die ein Jahr zuvor von der ersten großen Koalition mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit die Verfassung aushebelten und das Grundgesetz veränderten, sehen für den Fall von Naturkatastrophen, Kriegen und Aufständen vor, weite Teile der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte wie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, Freiheit der Presse usw. einzuschränken beziehungsweise außer Kraft zu setzen, um – wie es damals hieß – weiterhin das «Funktionieren der rechtstaatlichen Ordnung zu garantieren». Aus heutiger Sicht ist es interessant zu sehen, wie sich seinerzeit die gesellschaftlichen Kräfte im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung gegenseitig beeinflußten. Das Rumoren in der Studentenschaft, das sich seinerzeit neben hochschulinternen Vorgängen («Unter den Talaren Muff von tausend Jahren») vor allem gegen den Krieg in Vietnam richtete, also einem außenpolitischen Thema, ließ konservative Kreise befürchten, die aufmüpfige Jugend sei auf den Umsturz der bürgerlichen Ordnung aus, weshalb es dringend genau dieser Notstandsgesetze bedürfe, um solche Revolten der Unzufriedenen zu verhindern. Die Proteste, die auf der anderen Seite gegen die Notstandsgesetze auf einmal überall im Land aufflammten, basierten auf der historischen Erfahrung, daß die Ermächtigungsgesetze der Weimarer Republik Hitler und die Nazidiktatur überhaupt erst möglich gemacht hatten. Notstandsgesetze, das schien nichts anderes als ein Synonym für das Ermächtigungsgesetz zu sein. So daß es – nach den Erfahrungen von Holocaust und Zweitem Weltkrieg – die Neuauflage einer totalitären Machtergreifung für die 23 Jahre alte Demokratie in der Bundesrepublik zu verhindern galt, hatten doch zahllose Beispiele gezeigt, daß die nach 1945 umstandslos zu lupenreinen Demokraten gewendeten Nazis nahtlos wieder bis in hohe Regierungsämter hinein Karriere machen konnten.
Beinahe bestürzend oder auch komisch ist die Erkenntnis, daß beide Seiten im Prinzip (aber auch nur im Prinzip) fast das gleiche gewollt haben: die gewaltsame Veränderung der Verhältnisse zu verhindern. Allerdings muß man auch festhalten, daß der gewaltsame Systemwechsel das eindeutige Ziel der extrem rechten wie der extrem linken Seite war und unverändert ist.

Die folgenden Jahre wurden vom Widerhall des linken Terrorismus überschattet, wobei damals wie heute gerne aus dem Blick gerät, daß es in der gleichen Zeit auch überaus brutale terroristische Anschläge von rechts gegeben hat (Stichworte: Bologna, Oktoberfest-Attentat). Aber diese gewaltbereiten Kräfte gab es schon seit den Anfängen der Bundesrepublik, und bis heute hat sich daran – siehe NSU – nichts geändert. Jedenfalls gingen die bundesweiten Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung in die Breite. Das waren keine rein studentischen Veranstaltungen mehr, sie mobilisierten vielmehr auch weite Kreise des aufgeklärten Bürgertums. Im Bundestag jedoch überwogen dank der großen Koalition jene Kräfte, die sich vor diesen Massen fürchteten, und es muß der damals oppositionellen FDP angerechnet werden, neben 57 Abweichlern der SPD gegen das Gesetz gestimmt zu haben. Genau diese Erfahrung schien die außerparlamentarische Opposition zu brauchen, um wirklich stark zu werden. Nach dem Motto: «Innerhalb des Parlaments finden unsere Anliegen ohnehin kein Gehör.» Und damit haben wir erneut eine Stimmung, die sich mal in dem einen, mal in dem anderen Gewand bis heute erhalten hat.

Dieser kurze Exkurs war notwendig, um zu skizzieren, wie und unter welchen gesellschaftspolitischen Umständen Gerhard Seyfried seinerzeit politisiert wurde und mit ihm viele hunderttausend andere.

Ab 1970 arbeitete er als freiberuflicher Graphiker in München für Werbeagenturen, örtliche Geschäfte und auch den Speise-Eis-Hersteller Jopa, bei dem er Jahre zuvor die Ausbildung zum Industriekaufmann abgebrochen hatte. Er entwarf einige Packungsdesigns für Stangeneis. Als sonderlich befriedigend empfand er diese Tätigkeiten allerdings nicht. Da kam der Ruf der Satirezeitschrift PARDON, mal für ein paar Monate nach Frankfurt zu kommen, gerade recht. Einquartiert im Gästezimmer des Verlags, lernte er die Größen der damaligen Cartoon-Szene kennen und schätzen: FK Waechter, F.W. Bernstein und vor allem Robert Gernhardt. Dummerweise war es aber auch die Zeit, in der Hans A. Nikel, der PARDON zusammen mit Erich Bärmeier gegründet hatte, eine von der Redaktion überhaupt nicht goutierte esoterische Linie, inspiriert von der Transzendentalen Meditation des Maharishi Yogi, ganz ohne Ironie in das Satiremagazin hineinbringen wollte. Es kam zum Streit und zum Rauswurf der Redaktion durch den Verleger. Pardon überlebte diesen Bruch nicht, und wenig später startete die Titanic, die seitdem jeden Eisberg umschiffen und der Neuen Frankfurter Schule zu der Bedeutung verhelfen konnte, die sie bis heute hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

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(3) DER TAGESSPIEGEL, 07.07.2010

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Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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