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COMIC!-JAHRBUCH 2016

«Unser Leben war comichaft überzeichnet»
Interview mit Judith Holofernes

von Stefan Svik


COMIC!: Liebe Judith, nach Anfängen als Straßenmusikerin, hat ein großes Publikum dich und deine Band Wir sind Helden zuerst durch das Musikvideo im Comicstil zu «Guten Tag» kennengelernt, an dem Mawil mitgewirkt hat. Wieso habt ihr euch für den Comicstil entschieden?

Judith Holofernes: Wir wollten etwas machen, das den Aufstieg einer Band ins Absurde zieht – goldbezahnter Produzent, Weltherrschaftsversprechen, naive Hasi-Band mit großen Kulleraugen ... da lag es nah, das comichaft zu überzeichnen. Außerdem habe ich damals in ruinösem Ausmaß Comics gesammelt und hätte wahrscheinlich eine Comic-Idee angebracht, egal für welchen Song.

COMIC!: Hast du Mawils Schaffen bereits vor dem Videodreh und später dann danach verfolgt?

Judith Holofernes: Ich habe erst später kapiert, daß der Mawil von der Filmlounge der Mawil mit den tollen Comics ist. Da habe ich mich dann noch mal ein kleines bißchen mehr über unser schönes Video gefreut.

COMIC!: Der Song «Aurelie», Übersetzungen von dir aus dem Französischen, dein Besuch bei Lewis Trondheim in der ARTE-Sendung «Durch die Nacht mit ...», bei dem du Französisch gesprochen hast – all das vermittelt einen frankophilen Eindruck. Ist das so und gilt das auch bei deiner Comiclektüre?

Judith Holofernes: Ich bin eigentlich nicht besonders frankophil, so von wegen «Oulala, le vin rouge, le fromage!» Aber tatsächlich sind meine ungeschlagenen Lieblingszeichner und Autoren alle Franzosen, auch wenn im Lauf der Zeit natürlich auch viele andere in mein Regal gewandert sind. Aber meine Lieblinge sind immer noch Régis Loisel und Lewis Trondheim, auch wenn man wahrscheinlich keine unterschiedlicheren Zeichner in einem Satz zusammenbringen könnte.

COMIC!: Du hast als Kind gezeichnet und dann irgendwann aufgegeben, weil dir jemand sagte, daß du besser singen als zeichnen kannst. Zeichnest du heute noch Comics und hörst du beim Zeichnen Musik? Hat nicht gerade eine Musikerin mit Rhythmusgefühl, Talent für clevere Texte und den dosierten Einsatz von Soundwords alles was es braucht, um auch gute Comics zu schreiben? Mit Gerard Way (Band My Chemical Romance und Comics wie «Umbrella Academy») und anderen gibt es ja musizierende Comickünstler.

Judith Holofernes: Ich zeichne tatsächlich wenig bis gar nicht, eigentlich nur mit meinen Kindern! Aber ich habe das Gefühl, daß meine Comicliebe ihren Weg in mein Songwriting gefunden hat, und auf die albernen Tiergedichte auf meinem Blog hat sie natürlich auch Einfluß. Da vermuten die meisten, daß ich mich auf Robert Gernhardt, Morgenstern und so beziehe – tue ich auch. Aber ich denke dann immer «Äh ja, und Gary Larson.»

COMIC!: Welche Comics liest du aktuell, welche sind generell deine Favoriten?

Judith Holofernes: Meine neueste Entdeckung ist «Aya» von Marguerite Abouet und Clément Oubrerie, eine Geschichte über den Alltag von Teenagern an der Elfenbeinküste, mit tollen Bildern. Ansonsten bin ich immer noch Lewis Trondheim treu, und der hat ja ganz ordentlichen Output, da wird einem nicht langweilig. Außerdem bin ich über meine Heldin Amanda Palmer spät noch mal zu Neil Gaiman gekommen! Den hatte ich mit Anfang zwanzig schon mal gestreift und für toll befunden, aber dann wieder «vergessen» ... da hab ich viel nachzuholen.

COMIC!: Lewis hat in «Durch die Nacht mit ...» gesagt, daß sich die Franzosen viel mehr für Comics interessieren als die Deutschen. Die Sendung liegt zehn Jahre zurück. Hast du der Aussage damals zugestimmt und hat sich seitdem etwas an der Wahrnehmung von Comics in Deutschland verändert?

Judith Holofernes: Ich denke schon, in Frankreich gehören Comics wie «Aya» viel mehr zur Mainstreamkultur als hier. Hier in Deutschland fallen sich Comicfans sofort in die Arme, wenn sie einander auf einer langweiligen Party als artverwandt erkennen. Das hat auch was für sich. The Geek shall inherit the Earth! [Zitat aus einem Song von Wir sind Helden. Anmerkung des Autors].

COMIC!: Lewis und du habt Parallelen beim Arbeiten an Comics und Songs entdeckt, etwa, daß ihr gleichzeitig an mehreren Werken arbeitet und von einem zum anderen springt, wenn ihr ins Stocken geratet. Welche Parallelen gibt es noch zwischen Comics und Musik?

Judith Holofernes: Viele, denke ich! Comics zu lesen, ist bestimmt eine gute Schule für Songwriter. Sprechblasen oder Captions zu texten hat ja auch viel mit Verknappung und Rhythmus zu tun – und die meisten Comics, die mir etwas bedeuten, haben auch eine ordentliche Portion Poesie. Und Humor natürlich sowieso. Und sie bereichern den Fundus an intensiven, aussagekräftigen Bildern im Unterbewußten, auf die man beim Schreiben zurückgreifen kann.

COMIC!: Die klare Positionierung gegen die Bild-Zeitung, die Texte für Wir sind Helden und dein aktuelles Soloalbum «Ein leichtes Schwert» und ein Interview in der NDR-Sendung DAS!, bei dem du deine Enttäuschung ausgedrückt hast, daß ein Mitarbeiter eurer Plattenfirma dir klar sagte, daß es nun nicht mehr um Spaß, sondern ums Verkaufen vieler Alben geht, vermitteln einen sehr idealistischen Anspruch an deine Musik. Ist das sehr deutsch, denn von US-Musikern wie den Ramones hörte man immer wieder, daß in den USA Rockmusik vor allem Unterhaltung ist. Hat sich das seit den 1960er und 1970er Jahren geändert oder muß für dich Rockmusik auch heute noch die Welt verändern wollen?

Judith Holofernes: Das hat bei mir ehrlich gesagt sehr wenig damit zu tun, was ich von Rockmusik als Kunstform erwarte oder so ... Ich bin da bei anderer Leute Kunst überhaupt nicht wertend. Als Fan mache ich keinen Unterschied zwischen Indie und Mainstream – ich höre viel abseitiges Zeug, aber zum Üben singe ich Karaoke zu Playbacks von Ed Sheeran. Idealistisch, oder wie auch immer man das nennen mag, bin ich nur für mich selbst, als Seelenhygiene. Ich kann mir wenig faule Kompromisse erlauben, sonst werde ich traurig und lahm. Deshalb muß ich sehr genau damit sein, wie ich arbeiten will – das hat also nichts mit Strenge zu tun oder so, im Gegenteil. Ich mache das, um nett zu mir zu sein.

COMIC!: Und gilt das auch für Comics, damit sie dich interessieren?

Judith Holofernes: Da ist es eigentlich genau so, ich bin absolut keine Puristin, sondern eher Enthusiastin. Ich liebe viele Sachen inbrünstig, die eher vordergründig sind, Mainstream-Klassiker wie «Astérix» oder eben Gary Larson, aber eben auch «Le pays des trois sourires» von Trondheim – einen philosophischen Ausflug ans Ende der Welt, in dem Gott sich als Teller Spaghetti entpuppt.

Auf den Geschmack gekommen?
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Artikel, Interviews, Analysen, Porträts...
Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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