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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Mangamarkt Japan: Macht und Magazine

von Jaqueline und Enno Berndt

Am 12. Mai 2014 sah sich die Redaktion des Manga-Wochenmagazins BIG COMIC SPIRITS (Verlag Shogakukan) mit einem Mal heftigster staatlicher Kritik ausgesetzt. Die Präfekturen Fukushima und Osaka sowie die Stadt Osaka legten offiziell Beschwerde gegen die Serie «Oishinbo» (Gourmets) ein: Das Nasenbluten der Hauptfigur nach einem Recherche-Besuch im havarierten AKW Fukushima Daiichi sei wissenschaftlich unhaltbar und befördere «schädliche Gerüchte»; ebenfalls aus der Luft gegriffen sei die Behauptung, daß es in der Nähe einer Müllverbrennungsanlage in Osaka, die Schutt aus der Tsunami-geschädigten Region übernommen hatte, ähnliche Krankheitssymptome gegeben habe. Mit Bezug auf den Manga betonte auch Premierminister Abe die Nichtnachweisbarkeit von Gesundheitsschäden, und zwar auf einer Pressekonferenz in der Stadt Fukushima am 17. Mai 2014. Zwei Tage später gab die Redaktion von BIG COMIC SPIRITS dem Druck nach und brach die Mangaserie ab. Bereits von 1983 bis 2003 erschienen und 2008 noch einmal aufgegriffen, hatten Autor Kariya Tetsu (*1941)1 und Zeichner Hanasaki Akira (*1956) seit Januar 2013 ihre Protagonisten auf die Suche nach der «Wahrheit über Fukushima» geschickt. Im August 2013 waren die ersten Folgen dieses Teils gesammelt in Buchform herausgekommen, als Band 110 der Langserie «Oishinbo».
Stein des politischen Anstoßes war die in der Nummer 22–232 von BIG COMIC SPIRITS abgedruckte und am 28. April 2014 in den Verkauf gegangene Folge. Zwei Wochen später, in der Nr. 24 vom 12. Mai kamen Atomkraft-kritische Stimmen zu Wort: Der ehemalige Bürgermeister der Kleinstadt Futaba, die nach dem GAU vollständig evakuiert worden war, spricht davon, daß im heutigen Fukushima niemand mehr wohnen sollte (Seite 264), und ein junger Professor der Universität Fukushima meint, daß die Präfektur unwiederbringlich kontaminiert sei (Seite 273). Die Nr. 25 vom 19. Mai enthielt dann die vorläufig letzte Episode der Serie. Ihr folgte ein für Mangamagazine außergewöhnlicher Textteil (Seite 392–399), der kontroverse Stellungnahmen der protestierenden Präfekturen, aber auch von Naturwissenschaftlern, Ärzten, Bürgerbewegungen und Kinderhilfsorganisationen versammelte. Das Umweltministerium habe sich bedeckt gehalten, schrieb die Redaktion. Ihre Entscheidung, die Serie zu beenden, erklärte sie damit, daß von einer Fortsetzung vorerst kein konstruktiver Beitrag zur öffentlichen Debatte zu erwarten sei.
Der Fall «Oishinbo» ist symptomatisch für den politischen Klimawandel, den Japan im Gefolge der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 erlebt, und ausländischen Beobachtern mag er bewußt machen, daß Manga nicht nur als vermeintlich eskapistische Teenager-Unterhaltung funktionieren. Darüber hinaus repräsentiert er aber auch jenes kulturindustrielle Prinzip, welches Japan seit den 1960er Jahren zum weltweit größten nationalen Comics-Markt werden ließ. Gerade weil sie Teil einer Serie waren, die in einem Magazin mit wöchentlich knapp 200.000 Exemplaren erschien,3 wurden die «Oishinbo»-Figuren Gegenstand des öffentlichen Diskurses; bei einer Buchpublikation wäre das sehr viel unwahrscheinlicher gewesen.


Komplementäres Geschäftsmodell: Magazine als «Marktmacher» und Bücher als «Renditebringer»

Mit einem Umfang von 367 Mrd. Yen (2013; Tabelle 1) stellen Manga in Japan nach wie vor ein Drittel des gesamten Marktes publizistischer Druckerzeugnisse, doch strukturell hat sich im vergangenen Jahrzehnt Wesentliches verändert. Das betrifft vor allem die 276 Mangamagazine.4 Im Wochen- oder Monatsrhythmus erscheinen dort die meisten Bildgeschichten als Serie, von denen die erfolgreichen in die Buchform (tankobon) überführt werden. Auf dem engen Wechselspiel von kurzlebiger Magazinserie und langlebigerem tankobon beruhte von den 1970er bis zu den 1990er Jahren das Geschäftsmodell Manga, welches hier im Vordergrund stehen soll, während von der immer wichtigeren Medienkonvergenz – dem japanischen media mix – abgesehen sei ebenso wie von der Vielfalt der Distributionskanäle – Großhändler, Billiganbieter wie Book-Off, Cafés (manga kissa) – und der Relevanz ausländischer Märkte.
Dafür, daß Manga sowohl kulturell als auch ökonomisch funktionieren – daß z. B. das Zeichnen solcher Geschichten hauptberuflich betrieben werden kann –, sorgen in entscheidendem Maße die Redakteure. Sie erfüllen die Rollen von Produzent, Dramaturg und sogar Ko-Autor. Als Angestellte großer Verlagsunternehmen haben sie im Zweifelsfalle der Sicherung des kommerziellen Erfolges Vorrang einzuräumen. Je größer das Magazin, desto wahrscheinlicher die Neigung, politischem Druck nachzugeben. Bezeichnenderweise brach ein Magazin, das mit seiner monatlichen Auflage von knapp 20.000 Exemplaren in Japan als «alternativ» gilt, einen Monat nach dem großen Erdbeben vom März 2011 das allgemeine Schweigen: COMIC BEAM mit Shiriagari Kotobukis «Ano hi kara no manga» (Nach jenem Tag).5 Die weiblichen Genres brauchten etwas länger, bis sie «Fukushima» direkt ansprachen: Als erste tat es die Veteranin Hagio Moto mit «Nanohana» (Rapsblüten) Ende Juni 2011 im Monatsmagazin FLOWERS, welches eine Auflage von 33.000 Exemplaren hat. Die großen Magazine des Jungen- und Jugendmanga haben mehr als die zehnfache Auflage aufzuweisen. Das Wochenmagazin YOUNG JUMP z. B. verfügte über knapp eine Million Exemplare,6 als es im September 2004 mit 23 Seiten, die das Massaker von Nanking (1937) schildern, den Einspruch geschichtsrevisionistischer Kräfte herausforderte. Die fragliche Serie, Motomiya Hiroshis «Kuni ga moeru» (Land in Flammen, 2002–2005), wurde zwar für drei Wochen ausgesetzt, aber im Unterschied zu «Oishinbo» nicht gleich abgebrochen. Allerdings fehlten im Band 9 der Buchausgabe dann die entsprechenden Seiten. Es bleibt abzuwarten, wie Band 111 von «Oishinbo» aussehen wird.
Nachdem im Laufe der 1950er Jahre Kinderzeitschriften ihren Manga-Anteil sukzessive vergrößert hatten und spezielle Periodika entstanden waren, wurde im März 1959 mit SHONEN MAGAZINE (Verlag Kodansha) und SHONEN SUNDAY (Verlag Shogakukan) ein neues Publikationsformat etabliert: das Manga-Wochenmagazin. Ein knappes Jahrzehnt später führten die großen Verlage unter dem Namen komikkusu (Comics) jene Buchreihen ein, die «Manga» im engen Sinne, also den magazinbasierten flüchtigen Lesestoff, in Form der broschierten tankobon von ca. 12 x 18 cm Größe und etwa 200 Seiten Umfang erst richtig profitabel machen sollten. KODANSHA COMICS begann 1968 mit Chiba Tetsuyas «Haris no kaze» (Wirbelwind Haris, erstveröffentlicht in SHONEN MAGAZINE, 1965–1967); den Auftakt bei JUMP COMICS machte im gleichen Jahr Nagai Gos «Harenchi gakuen» (Schamlose Schule, in SHONEN JUMP, 1968–1972), und für den Mädchenmanga führte der Verlag Shueisha das Label MARGARET COMICS ein, welches als Auftakt Nishitani Yoshikos «Marie Lou» (in Margaret, 1965–1966) herausbrachte..


1 Japanische Personennamen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge — Nachname Vorname — angeführt und nur im Literaturverzeichnis durch ein Komma getrennt. Auf die Kennzeichnung japanischer Vokallängungen wird aus technischen Gründen verzichtet.

2 Sogenannte Doppelnummern (goheigo) bringen Wochenmagazine heraus, um feiertagsbedingte Pausen zu kompensieren, in diesem Falle den 5. Mai. Sie enthalten allerdings nicht doppelt so viel Inhalt und kosten auch nicht das Doppelte.

3 Im Frühjahr 2008 betrug die Auflage noch 346.000.

4 Nagata 2014, basierend auf dem Jahresbericht über den Publikationsmarkt, All Japan Magazine and Book Publishers and Editors Association.

5 Ausführlicher dazu in Berndt 2013.

6 Im Fiskaljahr 2013 [April 2013–März 2014] waren es noch 609.000 (Nakano 2014: 66).

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