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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Der niederländische Comicmarkt verdient Ansehen

von Rik Sanders
aus dem Niederländischen von Marcus Kirzynowski

Ein würdiger Höhepunkt für die niederländische Comicwelt war in den vergangenen zwölf Monaten die Auszeichnung des politischen Zeichners Willem (Bernhard Holtrop) mit dem Grand Prix 2014 des Comicfestivals in Angoulême. In dessen Fahrwasser durfte eine Reihe Comiczeichner aus den Niederlanden sich dort sehen lassen, um an jedem Festivaltag spezielle Plakate im aktivistischen Geist Willems zu gestalten. Internationale Aufmerksamkeit ist für einen kleinen Markt wie den niederländischen Comicmarkt immer willkommen. Besonders, wenn es um die Graphic Novel geht. Das Phänomen scheint in den Niederlanden nämlich seinen Höhepunkt überschritten zu haben.

Obwohl der politische Zeichner Willem eine stärkere Verbindung zur französischen als zur niederländischen Comicwelt hat – er wohnt schon jahrelang in Paris und veröffentlicht vor allem in Frankreich selbst –, diente die Auszeichnung für die Festivalorganisatoren von Angoulême doch als Anlaß, anderen niederländischen Comicschaffenden Aufmerksamkeit zu widmen. Und das schon zum zweiten Mal. Auch im vergangenen Jahr durfte bereits eine Delegation niederländischer Zeichner ins französische Mekka des Comics reisen, mit Unterstützung diverser (kultureller) staatlicher Einrichtungen. Übrigens sind niederländische Comicmacher schon öfter mit Unterstützung der Regierung im Ausland unterwegs gewesen, unter anderem in Lucca, Barcelona und Budapest.
Bis jetzt ist eine massive Umarmung niederländischer Zeichner im Ausland ausgeblieben, aber inzwischen sind einige Comicmacher auf dem Radar ausländischer Verleger. Der Humorcomic «Dirkjan» von Mark Retera erscheint beispielsweise unter dem Titel «Jean Norbert» beim Schweizer Verlag Paquet. Der hat eine Zusammenarbeit mit dem niederländischen Verlag Strip2000 abgeschlossen und wird weitere niederländische Funnys auf Französisch herausbringen. Paquet hat diesen Sommer auch bereits «Helden van de Tour» auf Französisch herausgebracht («Les Légendes du Tour»). In diesem Comic behandelt Jan Cleijne in zehn Kapiteln die Helden und Verlierer aus einhundert Jahren Tour de France. Die schönste Nachricht auf diesem Gebiet kam jedoch von Theo van den Boogaard («Leo der Terrorist»). Er ist gefragt worden, Zeichner von «Blake und Mortimer» zu werden.


Graphic Novels verdrücken sich

Schade ist, daß gleichzeitig in den Niederlanden der Fokus so wenig auf den eigenen Markt gerichtet wird. Die Kluft zwischen Buchhandel und Comicwelt besteht immer noch; der Mangel an einem guten Vertrieb und Marketing bleibt ein riesiges Problem. Das müßten die Betroffenen wirklich einmal kollektiv angehen, mit einem soliden und gut finanzierten Aktionsplan. Denn die niederländische Comicwelt kann ein bißchen Unterstützung gebrauchen, besonders auf dem Gebiet der Graphic Novel. Während Literaturverlage sich in den vergangenen Jahren enthusiastisch auf dieses neue Gebiet gestürzt haben, scheint nun ein Umschwung eingesetzt zu haben. Ausgelöst durch enttäuschende Verkaufszahlen und einen Mangel an gutem Marketing bringen Verleger nur noch in sehr geringem Maße literarisch gefärbte Comics heraus. Oder sie haben ganz damit aufgehört, obwohl es eine Subventionsregelung gibt, auf die sich Künstler bei literarischen Bilderzählungen berufen können.
Ein Zeichen an der Wand war die Entlassung von Hansje Joustra, einem erfahrenen Comicverleger, dem es gelang, seinen Verlag Oog & Blik an De Bezige Bij, einen renommierten Literaturverlag in den Niederlanden, zu verkaufen. Die neue Abteilung widmete sich dem Verlegen graphischer Romane, fuhr aber damit die vergangenen vier Jahre nur Verluste ein. Das kostete Joustra im Frühjahr 2014 seinen Job, und das Graphic-Novel-Angebot wurde gewaltig zusammengestrichen. Der einzige Lichtblick ist, daß Joustra einen Geldgeber für einen neuen Comicverlag namens Scratch gefunden hat. Der hat die Ambition, pro Jahr zwanzig «schön gestaltete» Bücher herauszubringen. Joustra hat einen Großteil der niederländischen Zeichner von Oog & Blik/Bezige Bij abgeworben, um bei diesem neuen Abenteuer mitzumachen. Daneben ist das Visier auch weiterhin auf das Ausland gerichtet: Die ersten beiden Veröffentlichungen stammen von den deutschsprachigen Comiczeichnern Ulli Lust und Henning Wagenbreth.


Besondere Comics

Wurden denn in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt keine interessanten niederländischen Graphic Novels herausgebracht? Nun, glücklicher Weise sah es nicht ganz so traurig aus. Bei Oog & Blik/Bezige Bij erschien unter anderem «De Kraker, de Agent, de Advokaat en de Stad» (Besetzer, Polizist, Jurist und Stadt), eine Graphic Novel, die den Umschwung im Denken und in der Gesetzgebung in Folge der Hausbesetzungen ins Bild setzt und erklärt. War das Besetzen in den 1970er und 80er Jahren in den großen Städten eine blühende Protestbewegung, ist es heute in den Niederlanden strafbar. Eine parlamentarische Mehrheit findet das Recht auf Eigentum wichtiger als das auf Wohnraum. Der Comic ist ein Projekt von drei jungen Journalisten, darunter ein ehemaliger Besetzer, und drei Zeichnern (Aart Taminiau, Sjoerd Kaandorp, Maia Matches). Das Besondere ist, daß in diesem «Besetzungsdossier» hin- und hergewechselt wird zwischen den Perspektiven der Besetzer, der Polizei und Verwaltung und der Juristen. Jeder Zeichner bildet die Sicht seiner Gruppe in einer eigenen Farbe ab: rot für die «Kraker», blau für die Polizei/Verwaltung und gelbbraun für die Juristen.
Beim selben Verlag kam auch «Zonder Filter» (Ohne Filter) von Robert van Raffe heraus, eine modernistische Erzählung über Van Raffe selbst, der sich als selbstbewußter Dandy neuerfinden muß. Ein anderer interessanter graphischer Roman aus niederländischer Produktion war «Muggen», der erste Comic, den Bart Nijstad beim Verlag Xtra publizierte. In diesem neuen Comic erweist sich Nijstad, der seine Zeichnungen mit Fotos unterstützt, als guter Erzähler surrealistischer Märchen in der Tradition von «Little Nemo in Slumberland». Und der Verlag Sherpa brachte Roelof Wijtsmas neuen Comic «Doolhof van Eeden» heraus. Wijtsma arbeitete acht Jahre an dieser fast textlosen, rätselhaften, testamentarischen Geschichte über zwei nackte, gefährdete Menschen und ihre Odyssee durch eine kahle, traurige Landschaft.

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