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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Der deutschsprachige Manga 2014
Ein Überblick von Michel Decomain

von Stefan Svik

Gibt man die Begriffe «Comics» und «Obdachlose» in eine Suchmaschine ein, findet sich zuerst eine große Meldung von 2014. Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Berliner Zeitung und viele weitere Seiten berichteten über den «Superpenner». Der 30-seitige Comic erschien am 13. Januar 2014 als Beilage der Berliner Obdachlosenzeitung Straßenfeger. Erstellt wurde das Heft zusammen mit der Werbeagentur Scholz & Friends, gesponsert von Mercedes-Benz und anderen. Tatsächlich gibt es Comics über Obdachlose aber schon sehr viel länger und noch dazu in den verschiedensten Varianten, von Funnys über Comix bis hin zur Graphic Novel.

Die Wahrnehmung von Obdachlosigkeit unterliegt Schwankungen. Millionen Menschen in Deutschland waren obdachlos, als der Zweite Weltkrieg vorbei war. Durch verheerende Umweltkatastrophen, wie dem Hurrikan Katrina 2005 in den USA, werden Menschen obdachlos und erhalten dafür Mitleid, Aufmerksamkeit in den Medien und Spenden. Sicher auch, weil sie als unschuldig in Not geraten gelten, während Obdachlosigkeit in Deutschland heute ja gar nicht mehr möglich sein kann, da wir ein soziales Netz haben; wer da keine Wohnung hat, muß selbst schuld daran sein, oder etwa nicht? Solche Meinungen scheinen populärer zu werden. Zumal viel über organisierte Banden berichtet wird, die Frauen zum Betteln in Fußgängerzonen schicken, um dann daheim in Ost- und Südeuropa Verbrecher reich zu machen, die für das Geld Ferraris kaufen. Aber werden damit nicht dumpfe Vorurteile bedient, um von anderen Problemen abzulenken, etwa der offenbar wachsenden Kluft zwischen Armen und Reichen? Dafür reicht an dieser Stelle der Platz nicht, und so soll es hier vor allem um Comics in Obdachlosenmagazinen gehen. In denen spiegelt sich im übrigen auch der Zeitgeist, und das Thema Leben auf der Straße wird in ihnen in all seinen Facetten beleuchtet.
Wer kein Geld hat, weil er keinen Job hat und keine staatlichen Leistungen bezieht oder damit nicht zurechtkommt, hat meist nur noch die Möglichkeit betteln zu gehen. Das ist demütigend. Abhilfe schaffen die Straßenzeitungen. Deren Prinzip ist es, daß Obdachlose die Zeitungen verkaufen und die Hälfte des Verkaufspreises für sich behalten. Beim Verkauf dürfen sie nicht betrunken sein und nicht betteln – somit hat diese Maßnahme etwas Erzieherisches und gibt den Menschen auf der Straße zumindest etwas Würde zurück.
1989 wurde mit Streetnews in New York die erste Obdachlosenzeitung gegründet. 1991 startete John Bird, davon inspiriert, die erste solche Publikation Europas namens THE BIG ISSUE (englisches Wortspiel, das sowohl «Das große Problem» als auch «Die große Magazinausgabe» bedeutet). Gefördert wurde das Projekt vom Unternehmen The Body Shop. THE BIG ISSUE wird bis heute in London verkauft. Außerdem gibt es Ableger davon, wie THE BIG ISSUE Australia, THE BIG ISSUE South Africa, THE BIG ISSUE Namibia und THE BIG ISSUE Japan. Comics enthält zumindest die britische Ausgabe von THE BIG ISSUE nicht, so ein Mitarbeiter des Magazins auf Nachfrage.
Es folgten viele weitere Straßenzeitungen in Europa. 1992 erschien in Köln BankExpress, später Bank Extra, heute Draussenseiter; es war die erste deutsche Straßenzeitung. Im Oktober 1993 folgten die Zeitungen «Bürger In Sozialen Schwierigkeiten – BISS» in München und Hinz &Kunzt in Hamburg. 2006 gab es bereits um die 30 Straßenzeitungen in Deutschland. 2010 hatten sie in Deutschland eine monatliche Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren.
Bevor «Superpenner» 2014 für Aufmerksamkeit sorgte und die verkaufte Auflage des Straßenfeger erhöhen sollte, gab es schon andere Ideen, um mit besonders attraktiven Inhalten Käufer zu locken. 2003 erlaubte Schriftstellerin J. K. Rowling das erste Kapitel des damals neuen Harry-Potter-Bandes zwei Wochen vor dem offiziellen Erscheinungstermin kostenfrei abzudrucken. 18 deutschsprachige Straßenzeitungen nahmen dieses Angebot an und brachten so etwa Großmütter dazu, für ihre Enkelkinder ein Exemplar dieser Zeitungen zu kaufen.
Inzwischen verkaufen 200.000 Personen auf der Welt Straßenzeitungen, das ergibt sechs Millionen potentielle Leser. Straßenzeitungen im deutschsprachigen Raum gab und gibt es reichlich: von A wie Abseits!? (Osnabrück) über «Kippe – Die Leipziger Straßenzeitung», «Surprise – Straßenmagazin Basel» und Eibisch-Zuckerl Straßenzeitung bis zu Wohnungs-Looser Michelstadt. Eine Vielzahl von Obdachlosenmagazinen haben eigene Comics (siehe rechts).
«1993 erschien in Hamburg als deutsche Antwort auf THE BIG ISSUE das erste HINZ & KUNZT-Straßenmagazin. Es ist damit das ERSTE Zeitungsprojekt für und mit Obdachlose(n) auf deutschem Boden. Letztes Jahr war 20jähriges Jubiläum! Mit dabei in der Nr.1: Sven Hinz und Ollie Kunz mit ihrem Hamburg City-Blues – und damit der erste Comic, der sich ausschließlich diesem Thema widmet», sagt Bernd Stein. Andreas Alt, der Zeichner des Comics «Richie – Der GeRISSene» nennt Stein als Vorbild für seinen Obdachlosencomic und bezweifelt nicht, daß er den ersten deutschen Comic in einem Obdachlosenzeitung geschaffen hat. Ob allerdings Hamburg die erste Straßenzeitung hatte, ist Auslegungssache. Dazu sagt Stein: «Ich bin natürlich damals nicht durch die Lande gefahren, um zu sehen, wo es überall Straßenzeitungen gibt. Wir haben damals mit dem Gedanken «Wir sind die Ersten!» angefangen, und das hat uns sehr angespornt. Es läuft letztendlich darauf hinaus, was man als ZEITUNG bezeichnet und was als Zeitung wahrgenommen wird. HINZ & KUNZT war die deutsche Antwort auf THE BIG ISSUE. In den besten Zeiten wurden über 100.000 Blätter pro Monat verkauft. Wenn es da Vorläufer gab, dann waren das fotokopierte Blättchen. Letztendlich geht es aber natürlich nicht um «Wer war der erste, der ist dann der Beste». Alle Projekte, die Obdachlosen helfen, sind willkommen.» Bernd Stein brachte seine gesammelten Comics mit den Figuren Sven Hinz und Ollie Kunz, optisch eine Mischung aus «Käpt’n Blaubär» und «Inspektor Canardo», nach ihrem Debüt in HINZ & KUNZT 1995 als Buch heraus. Inzwischen ist es zum kostenlosen Download erhältlich: www.hamburg- city-blues.de. (Tip: Am besten einen Comic-Reader dazu herunterladen, damit läßt sich der E-Comic wunderbar am Tablet-Computer oder auf einem Desktop-PC lesen.) Was an «Hinz und Kunz» neben den detaillierten Zeichnungen mit viel Hamburger Lokalkolorit (viele Geschichten spielen am Hafen und eine clevere Möwe wird als weitere Hauptfigur eingeführt) auffällt, ist, daß Ollie Kunz berlinert. Dazu an Bernd Stein, der die Comics zeichnete und meist auch allein schrieb (an einigen Stellen dankt er etwa Peter Schaaff für die Idee zur jeweiligen Folge), die Frage: «Warum wird im Comic berlinert?».
Der Westfale Bernd Stein sagt dazu: «1993, als &Mac220;Hamburg City-Blues&Mac221; erstmals erschien, war das eben vier Jahre nach der Maueröffnung 1989. Damals kamen viele aus der Ex-DDR nach Hamburg, um ihr Glück zu suchen. Und viele kamen mit den neuen Möglichkeiten und Verlockungen nicht klar und landeten auf der Straße. Ich fand und finde das deutsch-deutsche Thema sehr spannend. Darum sollte Ollie Kunz auch ein &Mac220;Ossie&Mac221; sein. (Vielleicht aus Brandenburg, irgendwo um Berlin herum). Ich habe mir damals extra Bücher über Berliner Dialekte besorgt.»
Steins Comic erzählt lose zusammenhängende Fortsetzungsgeschichten, die etwas vom Zeitgeist der 1990er-Jahre haben. Ein frecher Humor, liebenswerte Figuren und sehr viel erkennbare Sympathie für die Underdogs unserer Gesellschaft.

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