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COMIC!-JAHRBUCH 2013

Los años de la crisis – Die große Depression
Ergänzt und übertragen von Christof Ruoss


Von Alvaro Pons


Spanien 2011: unter dem Eindruck der internationalen Finanzkrise und des Abrutschens des US-Imobilienmarktes platzt auch beim einstigen Konjunktur-Musterknaben der EU die, lange Zeit mit massiver Staatsunterstützung künstlich aufrechterhaltene, Immobilien-Blase, und das Land taumelt in eine scheinbar nach unten offene Spirale aus explosionsartig ansteigender Arbeitslosigkeit, Konsumblockade, Bankenpleiten und ungebremster Staatsverschuldung. So viel wirtschaftliche Unsicherheit und soziale Unruhe kann auch für die Neunte Kunst im Lande nicht ohne Auswirkungen bleiben.


Die spanische Comic-Industrie unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise

Ungeachtet der weiter vorherrschenden Undurchsichtigkeit, des eklatanten Mangels an Transparenz und der daraus resultierenden Schwierigkeiten beim Versuch einer gründlichen empirischen Analyse des spanischen Comicmarkts, bedarf es nicht wirklich bestätigter Auflagen- oder Verkaufszahlen, um sich der gewaltigen Auswirkungen der andauernden Weltwirtschaftskrise und ihrer ganz speziellen iberischen Ausprägung auf die spanische Comic-Industrie und das hiesige kreative Geschehen im Bereich der Neunten Kunst bewußt zu werden.
Auf den ersten Blick allerdings scheinen gerade die wenigen öffentlich zugänglichen Daten und Zahlen eine gegenteilige Sprache zu sprechen: Erst vor wenigen Monaten lief eine, Laien wie Fachleute gleichermaßen überraschende, Meldung durch die spanische Presse, dergemäß ausgerechnet der Comic sich in den Jahren seit Beginn der Krise als stabilster und sogar mit nennenswerten Zuwächsen aufwarten könnender Motor einer, ansonsten nahezu in freiem Fall befindlichen, Druck- und Verlagsindustrie erwiesen habe. Zugrunde lag dieser Meldung die Veröffentlichung des analytischen Jahresrückblicks des Verbands spanischer Verleger für das Jahr 2010, laut welchem der Comicsektor, entgegen allen vorherrschenden Trends, eine vermeintliche Absatz-Steigerung im betreffenden Geschäftsjahr 2010 von über 7% verzeichnen konnte und sich somit im extremen Gegensatz zur, ansonsten steil nach unten weisenden, Entwicklungskurve des gesamten übrigen Buchmarktes befand. Bei näherer Betrachtung erweist sich das Ergebnis allerdings rasch als Illusion, als veritable ‹Fata Morgana›, deren Auftauchen im analytischen Jahresbericht der Verlegergilde um so betrüblicher beweist, wie wenig selbst die für den hiesigen Comic-Markt mitverantwortliche Verlagsindustrie von dessen Mechanismen, Trends und Realitäten verstanden hat.
Kaum hatte besagte Meldung die Runde gemacht, da meldeten sich nicht wenige der etablierten wie auch der jüngeren Comic-Verleger – teils öffentlich und teils nur im privaten oder halboffiziellen Umfeld von Blogs und Internet-Foren – zu Wort, um ihr Erstaunen über diese vermeintlich positive Entwicklung, welche keiner der Betroffenen durch die Entwicklungen im eigenen Haus gedeckt sah, zum Ausdruck zu bringen. Weder im jährlichen Titelausstoß der Comic-Verlage noch in der Entwicklung von Verkaufsauflagen oder Umsatz-Abschlüssen ließen sich Werte finden, die auch nur von Ferne das von der Verlegergilde gemeldete Resultat hätten bestätigen können. So ergab sich, daß die Verbandsanalyse von vorneherein von fehlerhaften Zahlen bezüglich der Neuerscheinungen ausgegangen war. Ein Abgleich mit der – ebenfalls manchmal im Detail nicht 100prozentig stichhaltigen, jedoch seit Jahren immerhin um größtmögliche Vollständigkeit bemühten – jährlich erscheinenden Neuheitenliste, welche von der «Federación de Industrias del Cómic» (FICOMIC)1 erfaßt und herausgegeben wird, zeigte eine Abweichung der von der Verlegergilde in ihrem Bericht für die Vorjahre benutzten Zahlen von bis zu 30% gegenüber den von den Vertretern der Comic-Industrie selbst gemeldeten Daten. Die Zahlen für das behandelte Jahr 2010 schließlich näherten sich langsam denen der tatsächlich im besagten Zeitraum publizierten Neuerscheinungen an. Das, vom Bericht für jenes Jahr konstatierte, erstaunliche Wachstum jedoch hatte sich rechnerisch für die Verlegergilde lediglich daraus ergeben, daß man für nahezu das gesamte davorliegende Jahrzehnt (während dem der spanische Comicmarkt, wie in COMIC!-Jahrbuch 2005 und 2008 berichtet, vor allem seit etwa 2004 tatsächlich einen kurzfristigen, von der Verlegergilde jedoch bis dahin unbemerkten Boom verzeichnen konnte) auf eklatant fehlerhafte Daten zurückgegriffen hatte.
In Wahrheit nämlich war der Einbruch gerade im Bereich der Comic-Neuheiten im besagten Jahr 2010 spektakulär (und der Trend setzte sich – ohne zu diesem Zeitpunkt bereits bestätigte Zahlen vorliegen zu haben – im Jahr 2011 ähnlich dramatisch fort): Gegenüber den nahezu 3.000 Neuheiten-Einzeltiteln, die in Spanien im Lauf des Jahres 2008 veröffentlicht wurden, liegt diese Titelzahl kaum drei Jahre danach bereits mehr als 50 % darunter: bei 14732. Die jährlichen Rückgänge der Neuerscheinungen von jeweils nahezu 20 % lassen sich nur als eine tiefgreifende Korrektur des Verhältnisses zwischen dem, in den Vorjahren von optimistischen Verlegern aufgebauten, Überangebot und der real existierenden Nachfrage im spanischen Comicmarkt deuten.
Kurioserweise scheint dieser Absturz lediglich zu bestätigen, was viele Szene-Insider dem überdimensionierten Boom der Vorjahre spätestens seit 2007 bereits mit größter Skepsis gegenüberstehen ließ. Selbst die zuversichtlichsten Analysten der Szene konnten sich damals bereits nicht mehr erklären, wie sich ihr, bis dahin durch mehrere Jahrzehnte und über die unterschiedlichsten Markt- und Konjunkturschwankungen hinweg relativ gleichbleibend auf eher niedrigem aber stabilem Niveau stagnierender Markt in nur wenigen Jahren in solch – für hiesige Verhältnisse schwindelnde – Höhen hatte schrauben können. Vieles an der positiven Entwicklung seit Beginn des neuen Jahrtausends mag im Ansatz nachvollziehbar und – vor allem auch vor dem Hintergrund des internationalen Vergleichs – einigermaßen logisch erschienen sein.3 Spätestens die Entwicklung ab 2007 jedoch generierte einen Wachstumsüberhang, der selbst damals schon allzu optimistisch angesetzt schien und mit dem die spanische Comic-Industrie erneut in die Fußstapfen ihres ersten großen Debakels – des Zusammenbruchs des Magazin- und Alben-Booms zum Ende der achtziger Jahre trat. Einmal mehr sieht sich die spanische Comic-Industrie einer Krisensituation gegenüber, die ihre Ursachen in allererster Linie in der strukturellen Problematik des Markts, in der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten sowie der limitierten Reichweite grundsätzlich neuer Entwicklungen hat. Die, in Spanien für den Großteil der Verbraucher besonders hart spürbare, Finanzkrise hat den Absturz sicherlich in seiner Drastik verstärkt. Ausgelöst aber wurde die Krise ganz gewiß durch Fehlentwicklungen innerhalb des Comic-Marktes selbst.


Stammpublikum versus neue Käuferschichten

Eine Gesamtentwicklung also, die natürlich zu einem Gutteil durch den allgemeinen und flächendeckenden Kaufkraftschwund im, am Rande des Staatsbankrotts manövrierenden, Land erklärt werden kann, die sich bei näherer Betrachtung jedoch interessanterweise in, je nach Sparten und Publikationsform doch sehr unterschiedlich verlaufende Tendenzen auflösen läßt: Alle verfügbaren Neuerscheinungs-Zahlen wiesen spätestens seit Ende der neunziger Jahre ein kontinuierliches, sich immer solider stabilisierendes Wachstum im Bereich der Manga aus. Seit Anfang des neuen Jahrtausends bestritten Titel dieser Sparte teils mehr als 30 % des gesamten Jahres-Neutitelaustoßes. Eine dauerhafte Entwicklung, die mit Flaggschiffen wie dem Megaseller-Phänomen «Naruto» eine weiter zunehmende Vormachtstellung des Mangasektors voraussehen ließ.
Statt dessen trat das Gegenteil ein: Die ab Ende des Jahres 2010 auch für die Allgemeinbevölkerung immer spürbarer werdenden Auswirkungen der sich ausweitenden Wirtschaftskrise4 schlugen sich am deutlichsten im Manga-Sektor nieder, der allein im Jahr 2011 über 10% bei den Neuerscheinungen einbüßen mußte. Als naheliegendste Erklärung für diese Entwicklung mag schlicht das vorwiegend junge Alter der Haupt-Klientel dieses Sektors gelten: Angesichts der immer angespannteren Wirtschaftslage, von der die junge Generation an der Schwelle zum Erwachsenenalter in besonderem Maße betroffen ist, scheinen sich viele Mangafans mehr und mehr vom regelmäßigen Kauf ihrer Lieblingslektüre zu verabschieden. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Online-Verfügbarkeit der Stoffe über Scanlation-Communities und -Foren, welche sich vorwiegend der Manga und anderer Comics ostasiatischer Herkunft annehmen und dem jugendlichen Publikum eine ernstzunehmende Alternative zum Kauf herkömmlicher Print-Editionen ihres begehrten Lesefutters bieten.
Ganz anders stellt sich die Situation unterdessen im Bereich der amerikanischen Mainstream-Comics dar, wo ein erprobtes Netz an Spezialbuchhandlungen eine flächendeckende Verfügbarkeit für das (im Durchschnitt wohl auch um ca. 10–15 Jahre ältere) Stammpublikum garantiert und vor allem die, bereits in mehreren vergangenen Krisenzeiten erprobte, unverbrüchliche Treue der Marvel-Gefolgschaft die Bilanzen saniert: Gegenüber den heftigen Einbrüchen bei Titelzahlen in den Katalogen der Mitbewerber Planeta DeAgostini (früher Marvel-Lizenzhalter, bis vor kurzem DC, heute mit kontinuierlich rückläufigem Neuheitenkatalog, der als einzigen nennenswerten US-Mainstream-Anteil noch die Titel der «Star Wars»-Lizenzen (Dark Horse) aufweist) und Norma (vormals Lizenznehmer von DC und verschiedener US-Independent-Labels – heute muß man US-Neuerscheinungen im aktuellen Katalog mit der Lupe suchen) geht Panini, derzeitiger Marvel-Lizenzhalter, deutlich gestärkt aus den Krisenturbulenzen hervor. Die Anzahl an Marvel-Neuerscheinungen bei Panini España hielt sich nicht nur stabil, sondern konnte sogar noch einen leichten Zuwachs verzeichnen. Dem ist außerdem eine erstaunliche Kontinuität in den Absatzzahlen hinzuzufügen: Wenngleich offizielle Zahlen auch hier nicht von autorisierter Seite vorliegen, so ergab eine repräsentative Umfrage bei einer Anzahl maßgeblicher, über das ganze Land verteilter, Verkaufsstellen die klare Überlegenheit und Kontinuität im Verkauf von Paninis Marvel-Titeln gegenüber allen übrigen US-Titeln und Labeln. Die Marke ist und bleibt damit ein unbestrittener Erfolgs-Garant im spanischen Markt, während sich DC (in Spanien niemals vergleichbar populär wie das ‹Haus der Ideen›) zum mittlerweile fünften Mal seit Markteintritt Mitte der achtziger Jahre einem Lizenznehmerwechsel gegenübersieht, was eine klare Einschätzung der tatsächlichen derzeitigen Popularität von Batman und Co. im aktuellen spanischen Markt schwieriger macht denn je.

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