Lektüre
 Independent Comic Shop   ICOM-Publikationen   Kostenlos   Fachmagazine   Sekundärliteratur 
Das COMIC!-Jahrbuch | Das ICOM!-Handbuch | Der ICOM!-Ratgeber
FILMRISS | Das verbandseigene Fachmagazin
COMIC!-JAHRBUCH 2013

Comicmarkt Frankreich 2011/2012
«Moebius ist tot. Der frankobelgische Comic ist tot.»


Von Britta Madeleine Woitschig


Mit diesem vergifteten Lob begründete die Jury der Eisner Awards 2012, einem der bedeutendsten Comicpreise weltweit, gut drei Monate nach dem Ableben Jean Girauds ihre Entscheidung, kein aus Frankreich oder Belgien stammendes Werk zu honorieren. Der Tod eines der unumstritten besten Comicautoren bündelt den in sich zerrissenen Zustand der Branche im frankophonen Europa wie in einem Fokus. Seit Giraud am 10. März 2012 im Alter von 73 Jahren diese Welt verließ, fand sich eine globale Trauergemeinde zusammen, die weit über die Comicszene hinaus reichte und ein gutes Vierteljahr seinen beiden künstlerischen Persönlichkeiten Giraud und Moebius kondolierte.
In seiner 1999 erschienenen Autobiographie «Moe-bius/Giraud, histoire de mon double» greift er spielerisch den Ansatz von Numa Sadoul auf, der seine doppelte Imago 1976 nach Vorbild von Robert Louis Stevensons Erzählung über den nüchternen Doktor Jekyll und den animalischen Mr. Hyde (1886) modellierte. Der frankobelgische Comic erlitt dadurch einen doppelten Verlust, der in Sonderausgaben von Fachmagazinen mit Wendecovern visuell greifbar wurde.
Verstärkt wurde dieser Effekt durch den Zeitpunkt, denn in den letzten Jahren verabschiedete sich die Generation seines Lehrers Jijé, die in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Anfang der 1970er Jahre das Bild der mittlerweile klassischen bandes dessinées geprägt hatte: So trat beispielsweise mit Paul Gillon, Patrick Cauvin, Eddy Paape, Jacques Martin, Jean Tabary und Albert Weinberg eine Garde zurück, die zwar anerkannt, aber nicht mehr Teil des gegenwärtigen Geschehens war.
Mit Gilles Chaillet (1946–2011) verstarb darüber hinaus Girauds ehemaliger Kolorist bei «Blueberry» und langjähriger Mitarbeiter Jacques Martins, zuletzt Autor von «Les boucliers de Mars».
Giraud/Moebius hatte seit seinen Anfängen ständig mit Formaten experimentiert und sich auf Medien aller Art eingelassen, wobei ihm in jeder Disziplin Meisterwerke gelungen sind, die Comicgeschichte geschrieben haben und sich nicht binnen weniger Jahre ersetzen lassen. Mit seinem Szenaristen Jean-Michel Charlier etablierte er mit «Blueberry» eine klassische Westernserie, eignete sich mit dem Zyklus um «Die Sternenwanderer» auf dem Planeten Ædena einen Werbecomic für den Automobilhersteller Renault an, schuf mit Alejandro Jodorowsky die «Incal»-Saga, wagte sich mit autobiographischen Comics vor und beteiligte sich an vielen Projekten jenseits des Tellerrandes. Weitere Wegmarken reichen vom Superheldencomic (der gemeinsam mit Stan Lee entstandene «Silver Surfer») bis zum Manga «Icaro» mit Jiro Taniguchi, der über den Gleichklang seines Vornamens mit «Giraud» flachste und diese Harmonie als Hommage empfand. Aus der Filmbranche bedauerten Ridley Scott und James Cameron ebenso den Verlust wie der Anime-Meister Hayao Miyazaki.
Obwohl Giraud/Moebius eher dem Erwachsenencomic zuzurechnen ist, hat er es in einen bildungsbürgerlichen Kanon eines Ausnahmekünstlers geschafft, der sogar von Intellektuellen anerkannt wird, die bei Comics sonst die Nase rümpfen. Ein ähnliches Echo dürfte wohl nur ein Art Spiegelman erhalten, der sich ebenfalls auf einer Ebene mit beispielsweise John Cage, Joseph Beuys und Andy Warhol bewegt. Mit Joann Sfar, Lewis Trondheim, Winshluss und Bastien Vivès wächst zwar schon die nächste Generation nach, aber deren Reputation muß noch Jahrzehnte wachsen, bis sie einen der Plätze im Pantheon füllen können.


Numerologie 2011:
Unsicherheiten und offene Fragen

Wenige Tage nach diesem Verlust, erhöhte die konservative Regierung von Nicolas Sarkozy (UMP) am 1. April 2012 den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Comics von 5,5 % auf 7 %. Der niedrigere Satz galt im Land der Gourmets weiterhin für Lebensmittel. Der neue, sozialistische Präsident François Hollande ließ seine Kultusministerin Aurélie Filippetti am 23. Juni 2012 verkünden, er werde in seiner Legislaturperiode den Satz wieder auf 5,5% senken.
Xavier Guilbert nahm den Wahlkampf zum Anlaß, um auch die jährlichen Branchenberichte im Comicsektor mit der entsprechenden Vorsicht wahrzunehmen:

In einem Jahr des Präsidentenwahlkampfes, in dem man von zahllosen Umfragen und mehr oder minder zweifelhaften Zahlen überwältigt wird, scheint es angebracht, sich einer einfache Tatsache bewußt zu werden: Eine Analyse ist niemals unschuldig und sicherlich nie neutral. Außerhalb der «harten» Wissenschaften existiert praktisch keine absolute Wahrheit. Welche Zahlen gesammelt werden, wie diese gesammelt und wie sie präsentiert werden, mit welchem Kommentar sie begleitet werden – all das entspricht einem gewissen «Weltbild», das unweigerlich politisiert ist. Deshalb kann man sagen, daß die Auswahl der «Indikatoren» für den Zustand des Marktes (Zahl der Neuerscheinungen, Segmente der Verkaufsziffern), wenn ihre Entwicklung nicht qualifiziert offengelegt wird, mehr über den Autor der Analyse (und im schlimmsten Fall über dessen Auftraggeber) aussagen als über das analysierte Objekt.
Guilbert: «Avant-Propos», 2012a, S. 31

Die Schlacht um die Deutungshoheit des europäischen frankophonen Comicmarktes (Frankreich, Belgien, Suisse Romande) teilt sich seit Jahren ein Terzett: Am Ende des jeweiligen Jahres stellt Gilles Ratier als Generalsekretär des ACBD im Dezember den Jahresbericht seines Verbandes vor, der in den folgenden Monaten durch ausführliche Kommentare von Xavier Guilbert (du9.org) und Didier Pasamonik (actuaBD.com) gewichtet und neu justiert wird. Dieses Schauspiel zog sich diesmal bis in den April.
In den 16. ACBD-Bericht «2011: Mehr veröffentlichen, um mehr zu verdienen?» sind die Kritiken aus den letzten Jahren (vgl. ältere Jahrgänge des COMIC!-Jahrbuchs) eingeflossen, was sich am deutlichsten in seinem letzten, dem 10. Abschnitt zeigt, der in einem langen Kommentar die Entwicklungen des Jahres zusammenfaßt. Dennoch bleibt das Papier ein unübersichtliches Zahlengebirge, das dem Geschäftsbericht eines mittelständischen Unternehmens gleicht. 2
2011 sind im französischen Buchhandel 64.000 neue Titel erschienen: Mit seinen 5.327 Titeln (2010: 5.165) stellt der Comicmarkt mit 8,32 % des Umsatzes den viertgrößten Sektor. Spitzenreiter mit 17 % sind sozialwissenschaftliche Titel, danach folgen mit jeweils 14% die Belletristik sowie das Jugendbuch. Doch darunter befinden sich nur 1.577 neue Titel (26,9 %), während Neuauflagen 1.058 Titel ausmachen. Der Anteil von Werken, die älter sind als zwanzig Jahre, ist von 178 Titeln auf 221 Titel gestiegen. 1.319 neue Alben (65,36 % von 1.577) erschienen innerhalb von Serien.
Die größten Sektoren innerhalb des Comicmarktes waren neben den frankobelgischen Alben (1.632 Titel), Manga asiatischer Prägung (1.520), Graphic Novels und experimentelle Comics (386) sowie amerikanische Comics (303).
Auch in Frankreich ist es rentabler, fremdsprachige Werke zu importieren, als von einem Autor die Verwertungsrechte zu erwerben. 2.043 übersetzte Titel aus 26 verschiedenen Nationen sind im Berichtszeitraum erschienen. 35 verschiedene Verlage legten 499 Serien mit 1.494 tankobons auf. Nicht-japanische Manga verloren die Gunst des Publikums: So wurden 2011 nur noch 85 koreanische Manhwas (2010: 106) veröffentlicht, europäische Manga erreichten nur noch 31 Titel (2010: 46). Der Anteil der Fumetti stagniert bei 2,16 % der Neuheiten (83 Titel); hingegen produzierten italienische Autoren 63 Titel direkt für den frankobelgischen Markt (2010: 40). Deutsche Titel konnten zwar ihre Präsenz ausbauen, blieben mit 14 Titeln (2010: 6) aber marginal.
Der Konzentrationsprozeß der Branche schreitet weiter voran, während die Finanzkrise von 2008 allmählich den Sektor erreicht hat. Die Zahl der Bestseller(-Serien), die eine Auflage von mindestens 50.000 Exemplaren aufweisen, sank von 102 auf 99. Zwar gilt ein Werk ab einer Auflage von 20.000 Exemplaren als Bestseller, aber der Mittelbau bricht langsam weg, da außer «Astérix» und «Titeuf» Serien mit einem ungebrochenen Status fehlen, der für die gewöhnliche Bevölkerung ein Muß ist. Mittlerweile haben etablierte Serien wie «Blake et Mortimer», «Largo Winch», «Joe Bar Team», «Lucky Luke», «Le Petit Spirou» und «Le Chat» diesen Bonus verloren.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2013
Links zum Artikel

ACBD
ActuaBD: L’actualité de la bande dessinée Association Artémisia
BDZoom
Comic Guide NET
du9 – L’autre Bande Dessinée
Festival International de la bande dessinée d’Angoulême
Guilbert, Xavier: Numérologie 2011. Une analyse du marché de la bande dessinée en 2011
Guilbert, Xavier: Le Manga en France
Japan Expo: Le festival des loisirs japonais
Livres Hebdo
Rue89
ToutenBD: L’actualité de la bande dessinée

Übersicht der Linklisten
  Alle Jahrbücher
Comic Jahrbuch 2013
Comic Jahrbuch 2012
Comic Jahrbuch 2011
Comic Jahrbuch 2010
Comic Jahrbuch 2009
Comic Jahrbuch 2008
Comic Jahrbuch 2007
Comic Jahrbuch 2006
Comic Jahrbuch 2005
Comic Jahrbuch 2004
Comic Jahrbuch 2003
Comic Jahrbuch 2001
Comic Jahrbuch 2000
COMIC!-Jahrbuch 2013
Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2012
240Seiten, davon 34 redaktionelle Farbseiten
EUR 15,25
BESTELLEN