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COMIC!-JAHRBUCH 2013

Von der Wüste in den Kopf
Moebius, SCHWERMETALL und die Folgen ansteckender Krankheiten. Kein Nachruf



Von Achim Schnurrer


Was fasziniert manche Menschen an der Wüste? Als Jean Giraud 1955 das erste Mal nach Mexiko reiste, um seine Mutter zu besuchen, die ihn als kleinen Jungen Anfang der 1940er Jahre zu den Großeltern gegeben hatte, blieb er acht Monate und lernte die Wüste kennen.
Es gibt wenige Orte auf dieser Welt, die einen phantasiebegabten Teenager nachhaltiger mit Eindrücken und Einflüssen infizieren können, als die scheinbar endlose, karge, auf den ersten Blick leblose Leere einer Wüstenlandschaft. Dabei ist ein Wüstenaufenthalt so ziemlich das krasseste Gegenteil von dem, was Jugendliche normalerweise im Alter von 16, 17 Jahren suchen.
Dennoch hat es ihn in jenen Monaten in Mexiko immer wieder hinausgezogen in die abweisende Einsamkeit dieser Landschaft. So eindringlich, wie er später in seinen Werken Atmosphäre, Licht und Topographie von Wüsten eingefangen hat, so intensiv muß die Prägung in jener Zeit gewesen sein.
Es ist subjektiv: Aber mich hat das von ihm manchmal nur mit wenigen Strichen skizzierte Setting einer Wüste als Hintergrund einer Geschichte immer so in die Szenerie hineingesogen, daß ich glaubte, ich befände mich tatsächlich gemeinsam mit Leutnant Blueberry oder Major Grubert zwischen den schroffen Felsformationen jener Wüste, die diese Figuren gerade zu durchqueren hatten.
Damals in Mexiko hat er die Wahrheit dieser Landschaft zum ersten Mal absorbiert, und sie hat sich so fest in ihm verankert, daß er auch Jahrzehnte später ihren Geist mühelos zu Papier zu bringen vermochte. Er schaffte das so unvermittelt, daß ihm mit mir die meisten seiner Leser genau dorthin folgen konnten, egal, ob es in der Außenwelt gerade regnete oder schneite. Man fror nicht mehr in dem zugigen Bus, in dem man gerade saß, sondern spürte die flirrende Hitze, die einen wie Sirup überzog und jede Bewegung zur Qual werden ließ.
Während seiner Militärzeit, die er unter anderem in Deutschland verbrachte, die ihn vor allem aber nach Algier führte, konnte er der Erfahrung, die er als Jugendlicher in Mexiko gemacht hatte, eine weitere Facette hinzufügen.
Welten trennen die Wüsten Afrikas von denen Amerikas. Und das nicht nur, weil sie sich auf zwei Kontinenten befinden und ein Ozean dazwischen liegt. Trotzdem gibt es eine geheime, unsichtbare Gemeinsamkeit, die allen Wüsteneien der Erde gemeinsam ist: Begibt sich ein Mensch in sie hinein, so wird sie ihn für immer verändern.
Ich selbst habe nur einige, wenige Male die Luft und das Licht afrikanischer Wüsten erlebt. Aber auch diese eher bescheidenen Erfahrungen waren imstande, einen unauslöschlichen Eindruck zu hinterlassen, der selbst nach vielen Jahren so lebendig ist wie an den Tagen, an denen ich zu meinen einsamen Wanderungen aufgebrochen war. Dabei gibt es kaum etwas Aufregendes davon zu berichten, was die Intensität, mit der sich die Eindrücke dieser Wüstentrips verfestigt haben, partout nicht erklärt. Abgesehen vielleicht von dem schwerbewaffneten ägyptischen Soldaten, dem ich unvermittelt und weit entfernt von jeder zumindest mir bekannten Ansiedlung begegnet war und der dort ein verstecktes und wahrscheinlich streng geheimes Lager, Depot oder was auch immer bewachen mußte. Worum es sich handelte, habe ich nie herausgefunden. Vielleicht ein Grund, weshalb ich noch lebe. Das Grenzgebiet zwischen Marokko und Mauretanien, das auch damals schon dafür bekannt war, eine nicht ganz ungefährliche Region zu sein, erschien mir dagegen als die friedlichste Gegend der Welt – menschenleer so weit der Blick ging, vielleicht weil ich mich tatsächlich in einer neutralen Zone bewegte.
Schon in alttestamentarischen Zeiten zogen Propheten immer dann in die Wüste, wenn sie sich mit einer Krise konfrontiert sahen. Das mochten seelische, geistige, spirituelle Erschütterungen sein oder äußerer Verfolgungsdruck, der zur Flucht zwang. Und nicht selten ging letzteres mit ersterem einher.
Jesus fand in der Einsamkeit der Wüste, wo ihm nichts und niemand begegnen konnte, seinen Widerpart, traf auf sein Alter ego. Die Verfasser der Texte, die diese Episode in den ersten zwei Jahrhunderten nach der Zeitenwende beschrieben, sprachen von Satan, Teufel und Versucher. Sie schilderten mit mal mehr mal weniger phantastischen Details den Kampf der zwei Magier, in die sich die Person des Erlösers aufgespalten hatte. Ein Kampf auf Leben und Tod, in dem sie wie asiatische Kung-Fu-Helden hoch durch die Luft wirbelten und der sie bis hinab in die tiefsten Abgründe der Hölle führte – und zurück zum Leben. Doch leider wurde diese Geschichte exakt in dem Moment, da sich religiöse Ideologie und kirchliches Ritual ihrer bemächtigte, vorhersehbar und langweilig. Die spannendsten Passagen verschwanden in den Tiefen der Apokryphen.
Wer einmal längere Zeit allein in einer Wüste verbringt – egal, wo auf dieser Welt, das heißt es kann sich auch um die Wasserwüste eines Ozeans handeln –, wird zwangsläufig mit einer anderen Seite seines Selbst Bekanntschaft machen. Aber man sollte sich von vorneherein darüber im klaren sein, daß dies so gut wie nie eine ausschließlich angenehme Begegnung sein wird. Und falls jemand wegen der gerade erwähnten Wasserwüste stutzt – Meere teilen sich mit den Sandwüsten ein zwar seltenes aber gelegentlich doch auftretendes Phänomen: die Fata Morgana.

METAL HURLANT, die französische Mutterzeitschrift, aus der das amerikanische Magazin Heavy Metal und das deutsche SCHWERMETALL hervorgingen (von den übrigen Ablegern in Spanien, Südamerika, Skandinavien etc. ganz zu schweigen), entstand nicht im luftleeren Raum. Es wird gerne kolportiert, daß Jean Giraud und mit ihm eine Reihe anderer namhafter Comic-Künstler mit den Bedingungen, die ihnen von den damals etablierten Verlagen und deren Zeitschriften geboten wurden, nicht mehr einverstanden waren. Daß ihnen die Mainstream-Comic-Industrie weder die inhaltlichen Freiheiten noch die Honorare bieten wollten, die diese Gruppe Kreativer für angemessen und notwendig zur Entfaltung ihres künstlerischen Potentials hielten. Also das bekannte Lied, das heutzutage jeder auch aus anderen Bereichen der Kultur kennt, sei es in der Musik, beim Theater, in der Belletristik oder beim Film.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Weder METAL HURLANT noch SCHWERMETALL waren jemals ökonomisch so erfolgreich, daß ihnen der Produktmanager eines x-beliebigen Industriebetriebs ungeachtet der Branche mehr als nur ein kurzes und zudem skeptisches Stirnrunzeln gewidmet hätte. Und ich gehe davon aus, daß selbst Heavy Metal zu seinen besten Zeiten kaum dazu beigetragen hat, den Machern viel mehr als einen Mittelklassewagen und ein Reihenhäuschen in der Vorstadt einzubringen. Die 20-Zimmer-Villen und Privatjets, über die gelegentlich gemunkelt wird, wurden durch ganz andere Geschäfte finanziert.
Bei Alpha Comic waren wir immer froh, wenn am Ende eines Jahres das Magazin mit plus minus Null in der Bilanz auftauchte. Bei einem normalen Verlagsmanagement wäre diese Zahl dann das unvermeidliche Todesurteil gewesen, die Einstellung eine selbstverständliche, nicht hinterfragbare Sache. «Alternativlos» würden heutige Entscheidungsträger bedeutungsschwanger murmeln und versuchen, ihre Luftblase genauso gewichtig wirken zu lassen, wie die Kanzlerin es perfekt beherrscht. Dabei ist doch nur eines wirklich gewiß, nämlich, daß es immer mehr als nur eine Möglichkeit gibt. Und auch mehr als nur eine Realität.
Genau dies war das gemeinsame Thema von METAL HURLANT und SCHWERMETALL und der in ihnen veröffentlichten Werke.

Es mußte also noch andere Gründe geben, die für die französischen Macher von METAL HURLANT wie auch für uns ausschlaggebend waren, Kraft, Zeit und Geld in so ein Projekt zu investieren, das unter dem Blickwinkel von Zahlen gar keine Existenzberechtigung hatte. Der Mehrwert eines Magazins wie SCHWERMETALL lag nicht beim Profit (wobei niemand ernsthaft etwas gegen einen Haufen Geld gehabt hätte), sondern bestand in einer simplen Lustbefriedigung, die phantasielosere Menschen wahrscheinlich schon immer als infantil abgetan haben.
In unserem Selbstverständnis haben wir uns den Luxus gegönnt, ein Heft herauszugeben, das sich einen Dreck scherte um Konformität, Marktgängigkeit oder auch nur Verständlichkeit auf jenem kleinstmöglichen Nenner, der heute so schön durch die nachmittäglichen Krawallshows im Werbefernsehen bedient wird. Konsens, Massentauglichkeit – drauf ge... pfiffen. Dieser Lustgewinn bestand nicht zuletzt im Bewußtsein, den Leserinnen (auch die gab es entgegen anderslautender Gerüchte) und Lesern bei Grenzverletzungen zu helfen. Das, was SCHWERMETALL ihnen bot, waren Comics, die sie damals sonst nie zu Gesicht bekommen hätten. Stilistisch anders und inhaltlich anders als alles, was seinerzeit beim Zeitschriftenhändler oder in den frühen Comic-Shops zu finden war.
Es waren Werke von Künstlern, die in der Wüste ihrem Alter Ego begegnet waren, und die sich mittels ihrer Geschichten darauf eingelassen hatten, diesen oft dunklen Seiten ihrer Person Ausdruck zu verleihen. Und das – wie gesagt – auch auf die Gefahr hin, daß keiner mehr verstand, was da eigentlich inhaltlich vermittelt werden sollte. Gelegentlich bekam ich den Eindruck, daß selbst die Schöpfer der Werke dann und wann den Überblick verloren. Ihre Kunst bestand darin, die Betrachter ihrer Bilderwelten trotzdem zu packen und in den Comic hineinzuziehen. Einer der fraglos größten Meister dieser Kunst, der es wie nur wenige andere verstand, auf dieser besonderen Klaviatur des Phantastischen zu spielen, war Moebius.
Im Grunde ist es eine Binsenweisheit, daß es in erster Linie der Spaß an dieser Arbeit war, die uns alle dazu bewegte, Magazine wie METAL HURLANT oder SCHWERMETALL zu machen. Solange wir es uns leisten konnten, haben wir uns diesen Spaß gegönnt.
Das war in Frankreich nicht anders als in Deutschland. Aber gerade heute muß man auf diesen für moderne Unternehmens(un)kultur unüblichen Aspekt unserer Arbeit hinweisen. Für eine überwältigende Mehrheit von Menschen auf diesem Planeten sind die Begriffe «Arbeit» und «Spaß» absolut unvereinbar. Das ist nicht nur bedauerlich und traurig, sondern einer der größten Skandale unserer Zeit. Gerade heute wird auf unserer Welt so viel Reichtum erzeugt, daß sich zum ersten Mal in der Geschichte nicht zuletzt diese Facette der Utopie, die diese Begriffe zusammenfügt, realisieren ließe.

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Links zum Artikel

Nachruf auf Moebius in der FAZ von Andreas Platthaus
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