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COMIC!-JAHRBUCH 2012

Sonderpreis der Jury für eine besondere Leistung oder Publikation:
Dirk Rehm (Reprodukt)

Von Marco Behringer


Reprodukt feiert 2011 sein 20-jähriges Bestehen. In den zwei Jahrzehnten hat sich der ursprüngliche Kleinverlag zu einer festen Größe mit internationalem Renommee hochgearbeitet. Dabei hat der Verlag viele deutsche Comicautoren in sein Programm genommen und dadurch den deutschen Comic vorangebracht. Das ist in erster Linie der Verdienst von Dirk Rehm.

COMIC!: Du hast deinen Abschluß an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg gemacht. Das Thema war «Übersetzung, Lettering und Herausgabe eines Bandes aus der amerikanischen ‹Love And Rockets›-Reihe». In welchem Fach war das und wie bist du darauf gekommen?

Dirk Rehm: Das Fach war ‹Visuelle Kommunikation›, mein Studienschwerpunkt Experimentalfilm. Und es schien naheliegend, weil ich mit großer Begeisterung die amerikanischen Independent-Comics von Los Bros Her-nandez, Daniel Clowes, Julie Doucet oder Chester Brown gelesen habe und es für diese seinerzeit in den USA mit dem Label «New Comics» versehenen Comics kein Forum in Deutschland gab. Für mich waren und sind «Love & Rockets», «Eightball», «Dirty Plotte» oder «Yummy Fur» ungemein wichtig, weil in den Heften die jeweils persönliche Stimme einer neuen Generation von Zeichnern zum Ausdruck kommt, die die Aufbruchsstimmung der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre – Punk und Post-Punk – durchlebt hatten, und jetzt das taten, wonach ihnen der Sinn stand. Ohne Rücksicht auf kommerzielle Gesichtspunkte haben die Autoren von ihren individuellen Erfahrungen und Lebensentwürfen erzählt und unmittelbar zum Ausdruck gebracht, was sie beschäftigt.

COMIC!: Du hast nicht nur über das Lettering geschrieben, sondern bist mittlerweile einer der renommiertesten Vertreter dieser Zunft. Wie kam es dazu?

Dirk Rehm: Ich habe mich während des Studiums bei Carlsen als Letterer beworben und wurde akzeptiert, als Ende der Achtziger von Monat zu Monat mehr und mehr Alben bei Carlsen veröffentlicht wurden. Mit dem Lettering habe ich zunächst mein Studium und dann später meinen Lebensunterhalt finanziert. Neben Carlsen habe ich vor allem für Edition Moderne und Drawn & Quarterly gelettert, heute nehme ich eigentlich nur noch vereinzelt Fremdaufträge an, in den letzten Jahren in der Hauptsache für Kinderbücher, die bei Carlsen oder Hanser erschienen sind, etwa von Ole Könnecke oder Shaun Tan.

COMIC!: Hast du für andere Verlage noch weitere Dienstleistungen erbracht?

Dirk Rehm: Zu viel, um es alles aufzuzählen. Redaktionelle Arbeit bei vielen Comics, die bei Carlsen erschienen sind. Lettering bei Comics von Guy Delisle, Dupuy-Berbérian und Michel Rabagliati für Drawn & Quarterly. Jacques Tardi für Edition Moderne, einiges für Strapazin oder Jochen Enterprises. In den letzten Jahren habe ich Art Spiegelmans «Breakdowns» für S. Fischer gelettert, Ole Könneckes «Anton und die Mädchen» für Hanser, aber vor allem Manga-Taschenbücher für Carlsen, unter anderem die Serien «Hikaru No Go», «Cantarella» oder «Last Order» – allesamt natürlich mit digitalen Fonts, wie bei Manga üblich.

COMIC!: Inzwischen wird auch bei Reprodukt digital gelettert. Was sind die Vor- und Nachteile?

Dirk Rehm: Digital nur insofern, als daß das Handlettering gescannt und am Rechner nachbearbeitet wird. Mit Fonts haben wir bislang nur bei einer Handvoll Comics gearbeitet – jedenfalls soweit ich mich erinnere.
Auch wenn die Computer-Fonts stetig besser werden, kann ein geübtes Auge in der Regel erkennen, ob ein Font oder eine Handschrift verwendet wurde. Handlettering erzielt mittels kleiner Abweichungen im Schriftbild und der unregelmäßigen Abstände zwischen einzelnen Buchstaben und Wörtern eine Lebendigkeit und somit eine Entsprechung zur ebenfalls handgemachten Zeichnung. Wenn ein Lettering gut gemacht ist, harmonieren Zeichnung und Schrift. Ein computergenerierter Font dagegen steht für mich sehr häufig als toter Fremdkörper neben der Zeichnung, beides ergibt kein harmonisches Ganzes.

COMIC!: Letterst du alle Comics bei Reprodukt?

Dirk Rehm: Nein, das wäre bei dem derzeitigen Stand von beinah vierzig Veröffentlichungen im Jahr kaum zu schaffen, selbst wenn ich wollte. Ich reduziere bei Reprodukt den Anteil von eigenem Lettering immer mehr, vor allem, weil andere Aufgaben viel Zeit erfordern. Michael Hau und Céline Merrien bewältigen einen Großteil des Letterings bei Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen – beide mit hervorragenden Ergebnissen. Eher sporadisch arbeiten Hartmut Klotzbücher, Andreas Michalke und Michael Möller für uns.

COMIC!: Du arbeitest seit einiger Zeit an einer deutschen Ausgabe von Chris Wares «Jimmy Corrigan». Der Band war schon für Oktober 2005 angekündigt, jetzt für 2012. Was ist dabei die besondere Herausforderung?

Dirk Rehm: Ich selbst arbeite nicht daran, wir haben im Moment noch keinen Letterer für das Projekt. Würde ich mich daran setzen, würde es vermutlich weitere zehn Jahre dauern, bis das Buch realisiert werden kann. Die besondere Herausforderung sind die vielen verschiedenen Hand- aber auch Satzschriften, mit denen Chris Ware seine Bücher gestaltet. Das typografische Element ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Bildsprache, der nur mit viel Zeit- und Arbeitsaufwand übertragen werden kann. Ich halte keine der bislang veröffentlichten Übersetzungen, etwa ins Französische oder Niederländische, für besonders geglückt. Wir wollen versuchen, es besser zu machen. Mal schauen, ob uns das gelingt ...

COMIC!: Viele der bekannten Letterer sind auch oder vor allem Comiczeichner (u. a. Gerhard Förster, Michael Hau, Hartmut Klotzbücher, Hansi Kiefersauer). Hattest du selber mal Ambitionen in diese Richtung?

Dirk Rehm: Keine ernsthaften, nein.

COMIC!: Die Abschlußarbeit war 1991 die Initialzündung für die Gründung von Reprodukt. War es einfach, einen Comicverlag zu gründen?

Dirk Rehm: Schwierig ist das zunächst nicht, sofern man das notwendige Geld zur Verfügung hat, um Autor bzw. Lizenz, Übersetzung, Herstellung und Druckkosten für ein Buchprojekt zu bezahlen. Die Schwierigkeiten beginnen jedoch spätestens dann, wenn man die produzierten Comics in den Handel bringen will. An dem Punkt waren die schon damals vorhandenen Beziehungen zur Hamburger Comicszene, etwa Andreas C. Knigge von Carlsen oder Detlev Wahl von Hummelcomic, eine große Hilfe, die mir mit Ratschlägen bzw. vertrieblicher Unterstützung zur Seite gestanden haben.

COMIC!: Wie kann man das Reprodukt-Programm in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen?

Dirk Rehm: Der Begriff «Autoren-Comics» umschreibt es wohl am besten, wenn man es in einem Wort auf den Punkt bringen will. Allerdings hat sich die Art und Weise, wie das Programm gestaltet wird, im Laufe der Zeit gewandelt. Nachdem ich erst allein und dann für ein paar Jahre zusammen mit Jutta Harms und Claudia Jerusalem-Groenewald das Programm gemacht habe und jeder seine Titel eingebracht hat, sind wir heute über das Jahr in größerer Runde und vier bis sechs Programmsitzungen damit beschäftigt, ein Frühjahrs- oder Herbstprogramm zusammenzustellen. Wir diskutieren alle gemeinsam, derzeit also Michael Groenewald, Jutta Harms, Christian Maiwald, Sebastian Oehler und ich, häufig noch in Gesellschaft von interessierten Zeichnern wie Sascha Hommer oder Mawil. Jeder, der einen Titelvorschlag zum Programm machen will, muß seinen Titel sozusagen «verteidigen», also mit überzeugenden Argumenten darlegen, warum wir einen bestimmten Comic veröffentlichen sollten. Das fällt in der Regel leicht, wenn von dem betreffenden Autor schon ein Titel im Programm vorhanden ist, wird aber ungleich schwieriger, wenn es sich um einen für uns neuen Autor handelt, denn wir denken nicht so sehr an die Veröffentlichung eines einzelnen Comics, sondern der Autor muß auch das Potential für zukünftige Veröffentlichungen mitbringen.

COMIC!: Was war dein Ziel als Verleger?

Dirk Rehm: Zunächst war mein Ziel ganz einfach, die Comics ins Deutsche zu übertragen, die mir persönlich etwas bedeuten. Und das so gut zu machen, wie nur eben möglich – also etwa dem Ausdruck und Lebensgefühl des «Love & Rockets»-Kosmos der Brüder Hernandez eine deutschsprachige Entsprechung zu geben. Und das hat in einem kleinen Verlag mit einem deutlich intimeren Umfeld sicher besser funktioniert als es etwa zu Carlsen gepaßt hätte.
Dieser Ausgangspunkt führte dann auch fast zwingend zur Veröffentlichung von deutschen Autoren wie Andreas Michalke, Minou Zaribaf («Artige Zeiten») oder Markuß Golschinski («Krm Krm»). Ihre Hefte haben zum einen autobiografische Inhalte, oder wenigstens autobiografische Bezüge, zum anderen sollte aber auch der formale Aspekt möglichst persönliche Bezüge aufweisen. Nicht nur die Zeichnungen und Texte, sondern auch alle redaktionellen Aspekte wurden von den Autoren selbst entworfen und handschriftlich umgesetzt. Wenn man so will, sind das beinahe persönliche, gezeichnete «Briefe an die LeserInnen». Das Prinzip des «Handgemachten» haben wir über die Jahre aufrechterhalten, so gut es möglich war bzw. bei lizenzierten Ausgaben mit dem Original in Einklang zu bringen ist.

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
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