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COMIC!-JAHRBUCH 2012

Herausragendes Szenario:
«Rocket Blues» von Ivo Kircheis und Mamei
Porträt und Interview

Von Achim Schnurrer


Und danke für den Matjes!

Eines kann man Ivo Kircheis und Mamei nicht vorwerfen: Sie eifern ihren Inspirationsquellen nicht in der Weise nach, wie man es von besinnungslos ergebenen Fans kennt. Etwa jenen Coverbands, die den Ehrgeiz entwickeln, jede Note ihrer Lieblingssongs so getreu nachzuspielen, daß der Unterschied zum Original nicht mehr zu hören ist. Gelingt natürlich nie! Weshalb auch den herzigen Bemühungen zahlloser Elvis-Imitatoren, ihrem Idol bis hin zur letzten Strasspaillette am Kostüm gleichen zu wollen, immer etwas nicht nur Rührend-Peinliches, sondern auch durch und durch Verbohrtes anhaftet. Na ja, Fan und Fanatiker haben nun mal nicht umsonst die ersten drei Buchstaben gemeinsam.
Stichwort Elvis: Kircheis und Mamei lassen einen ihrer Hauptprotagonisten zwar so aussehen wie ..., aber der Name bleibt tabu und so darf der Leser rätseln, ob es sich beim galaktischen Wiedergänger um den echten King, einen Imitator oder am Ende doch nur eine Comic-Figur handelt.
Um bloß nicht falsch verstanden zu werden: Nichts gegen Fans und Fandom. Die Comix wären ohne sie längst dem Orkus des Vergessens anheim gefallen.
Vielleicht ist den geschätzten Leserinnen und Lesern das X aufgefallen. Es ist nämlich naheliegend, daß hier Comix und nicht Comics steht. Denn während letztere mittlerweile ein beschauliches Dasein fristen und unter dem Label graphic novel gar das Treppchen der Hochkultur hinauf ins muggelige Feuilleton emporklettern konnten, wo ihnen abgewichste Kultursachwalter blasse Elogen ins Poesiealbum griffeln, fristen ComiX immer noch ein Dasein unterhalb scheinoffiziöser Wahrnehmungsschwellen. Sie sind nach wie vor Underground – und das ist vollkommen okay so.
Dieses X steht seit Ende der 1960er Jahre für das Ende der bis dato gängigen Erzählformen. Das Ende der Zeichenstile und -schulen, Genres und anderen inhaltlichen Restriktionen, die die Welt der Comics in ihr vielerorts als viel zu eng empfundenes Korsett schnürten.
«Wo bleibt der Sex?», fragte sich in jenen Jahren ein gewisser Robert Crumb. Sein Kumpel Gilbert Shelton fügte eine weitere Frage hinzu: «Wo sind die Drogen?» Und aus einer völlig versifften Ecke grunzte ein Typ im Biker Outfit mit Harley-Davidson-Stickern auf den Schlangenlederstiefeln: «Sex‘n Drugs – yeah. Aber da fehlt noch was ...»
Nein, Rock‘n‘Roll kugelte gerade nicht durch die benebelten Gehirnwindungen dieses wenig vertrauenerweckenden Subjekts. Er grapschte sich einen leeren Pizza-Karton und kritzelte einen durchgeknallten Piraten auf den Deckel. Ein Pirat in Aktion, dem es sichtlich Spaß macht, Gegner ohne Zahl niederzumetzeln und ihnen im Blutrausch die Glieder abzuhacken (und was für Oschis ihm dabei unter den Säbel kamen!). Längst war der Deckel voll mit kleinen Bildchen und anderes Material mußte her. Da kam dem obsessiven Kritzler Crumbs neue, teure Kafka-Ausgabe gerade recht, deren unbedruckte Vorsatzblätter schneller herausgerissen waren, als ihr Besitzer «Stop!» schreien konnte. Gegen die gewalttrunkenen Alpträume des Bikers schienen Kafkas schwarze Fantasien richtig niedlich zu sein.
Kein Wunder, daß die Werke dieses Genies der Underground-Comix hierzulande immer noch stante pede auf dem Index landen würden, wenn sich denn überhaupt jemand trauen würde, sie in Deutschland zu verlegen. Neugierig geworden? Ich will zumindest den Namen des Dritten in diesem Trio infernal des Undergrounds nicht verschweigen: S. Clay Wilson.
O Tempora, o Mores. Zensur braucht «Rocket Blues» zum Glück nicht zu fürchten. Sex abgesehen von einigen Würstchen und anderen dezenten Anspielungen – Fehlanzeige. Drogen – nur, wenn Fischbrötchen high machen. Das könnte man allerdings nach der Lektüre des Albums tatsächlich glauben. Und Gewalt? Keine Spur. Obwohl sich Adolf Hitler redlich darum bemüht. Allein es mag ihm in seinem Weltraum-U-Boot so gar nicht gelingen, die finsteren Pläne in die Tat umzusetzen. Die Episode mit der Tittengranate (man verzeihe die rüde Ausdrucksweise, aber jede andere Beschreibung würde dem Objekt nicht gerecht) ließe sich mit viel schlechtem Willen zu einem Indiz für die verhängnisschwangere Kombination aus Sex und Gewalt zurechtdeuten, ist aber nur eine Art Rohrkrepierer. Man sieht, die Zeiten haben sich geändert.
Trotzdem ist dieses Album Underground pur. Die reine Provokation war in den längst entschwundenen Jahren der Hippie-Ära ein Ding der Notwendigkeit, um sich vom Mainstream der Comic-Industrie abzusetzen. Was für ein historisches Mißverständnis, daß diese Zeit heute unter «Love and Peace» gelabelt wird; hieße es doch wenigstens «Love and Piece», dann könnte zumindest noch der eine oder andere darüber grinsen.
Heute müssen sich die Helden alternativer Comic-Produktion etwas anderes einfallen lassen, um das zu entwickeln, was die Marketing-Fritzen als Alleinstellungsmerkmal bezeichnen.
Da gibt es natürlich den Stil der Zeichnungen, der durch seine Nähe zu Crumb deutlich macht, daß es sich bei «Rocket Blues» nicht um Kinderkram handelt. Doch das soll hier nicht weiter vertieft werden, schließlich ist das Album – und zwar völlig zu Recht – mit einem Preis für das Szenario ausgezeichnet worden. Und dieser Preis berücksichtigt etwas, das bei Comics und Comix gleichermaßen gerne übersehen wird: Mögen einen die grafischen Finessen noch so sehr vom Hocker reißen, die Qualität eines Werkes kann immer dann nicht vollständig überzeugen, wenn die Geschichte, die erzählt wird, mies, fade und anödend ist.
Ich gebe zu, ich bin als Augenmensch – wie viele – nicht davor gefeit, mich von brillanten Zeichnungen blenden zu lassen. Und ich bewundere Künstler, die in der Lage sind, atemberaubende Perspektiven und dynamische Szenen aufs Papier zu bannen und mich mit immer neuen Blickwinkeln und großartigen Figuren zu fesseln. Aber viel größeren Respekt zolle ich all jenen, die ihre Geschichte schlüssig und packend in einer Weise erzählen, die mich gefangen nimmt. Das größte Lob, das in diesem Zusammenhang gemacht werden kann, ist, wenn der Leser sagt: «Es hat mich nicht gelangweilt. Im Gegenteil, ich habe die Story in einem Rutsch durchgelesen.»
Das klingt merkwürdig unaufgeregt, nachgerade schlicht und bescheiden und ist dennoch viel mehr wert, als jeder luftschnappende Kniefall vor dem scheinbar überirdischen Können eines Zeichnergottes. Vergleichbar mit dem Kniefall vor dem tollen, technisch perfekten Gitarrensolo in einem ansonsten banalen Song.
Es ist ja nicht so, daß es beim Erzählen nicht auch Effekte gäbe, die mehr oder weniger sinnvoll in der Geschichte plaziert werden können. Nur fallen sie im Zusammenhang mit der Neunten Kunst viel weniger auf als all die Effekte, mit denen ein geschickter Zeichner seiner Arbeit Glanz verleihen kann.
In «Rocket Blues» erwartet den Betrachter eine Story, die gleichermaßen abgedreht und rasant, gespickt mit Zitaten und vor allem komisch ist. Mir wäre es schwergefallen, hätte mich irgendein Umstand dazu gezwungen, das Album nicht in einem Stück durchzulesen. Allerdings gibt es eine Einschränkung. Dante hat im Canto terzo der «Divina Commedia» die berühmte Inschrift über die Höllenpforte gesetzt: «Lasciate ogni speranza, voi ch’ entrate.» (Laßt, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.) Das bedeutet, der Leser sollte seine vorgefertigten Erwartungen an der Garderobe abgeben. Er muß sich dem gezeichneten Trip ausliefern, sonst könnte das Ganze in die Hose und das Vergnügen zum Teufel gehen.
Es gibt nichts Erwartbares und es ist genau diese Kompromißlosigkeit, die gute Comix auszeichnet. Dazu braucht es heute den Dreiklang aus Sex, Drogen und Gewalt nicht mehr, jedenfalls nicht zwingenderweise. Deshalb konnte Underground überleben und es wird ihn auch in vielen Jahren noch geben, weil immer Künstler auftauchen werden, die Freiheit und Grenzenlosigkeit suchen und es aus diesem Grund wagen, radikal mit den vorgegebenen Konventionen – egal ob stilistischer oder erzählerischer Art – zu brechen. Mancher mag dies als zu spielerisch und zu leicht empfinden, doch das ist es beileibe nicht. Provokation um der Provokation willen wird in unseren postmodern geschulten Zeiten rasch als solche erkannt und entsprechend naserümpfend zur Kenntnis genommen. Ein Moment unverfälschter Qualität schimmert in dem nur schwer faßbaren Gefühl durch, das sich am ehesten mit Wahrhaftigkeit beschreiben läßt. Der Leser muß spüren, daß der Künstler es trotz aller Leichtigkeit und Komik mit seiner Geschichte ernst gemeint hat, daß sie ihm ein echtes Anliegen war.
Wenn das bei den Lesern ankommt, darf man zurecht von einer Kunst sprechen, die auch begnadeten Zeichnern und Autoren nur dann und wann gelingt. Bei «Rocket Blues» ist dies der Fall.

Schon auf meine erste Frage an Ivo Kircheis und Mamei nach den literarischen Vorbildern des Albums erlebte ich eine kleine Überraschung. Ich hielt die Vorbilder für so offensichtlich, daß ich nur der Vollständigkeit halber nach ihnen fragte.


Ivo Kircheis: Das ist interessant. Warum erübrigt sich die Frage? Bewußte literarische Vorbilder habe ich gar keine ...

Mamei: (zählt auf) David Lynch, Mark Twain, Monty Python, Gene Roddenberry ...

COMIC!: Welche Autoren und Bücher haben euch darüber hinaus geprägt?

Mamei: Ernesto Bozzano, von Däniken, Kafka und eine immense, drei Stockwerke umfassende Galerie parapsychologischer Literatur im Hause meines Vaters.

Ivo Kircheis: Kurt Vonnegut (von dem habe ich alles gelesen), William Burroughs und die Autoren der Beat Generation, Hermann Hesse, Kafka, Joseph Roth, Sartre, Freud ... und Ken Kesey («Einer flog über das Kuckucksnest»), und ja, auch Douglas Adams mit seinen Anhalter-Büchern (Teil 1 war das erste Buch in meinem Leben, wo ich bei einer Stelle tatsächlich laut loslachen mußte).

COMIC!: Also wird Douglas Adams doch noch genannt. Danke. Zum Comic-Zeichner wird man ja nicht geboren. Auch wenn einem ein gewisses zeichnerisches Talent in die Wiege gelegt wurde, braucht es Einflüsse, Initialzündungen durch Comics, die den Wunsch auslösen, es selber einmal zu versuchen. Von Ivo weiß ich, daß für ihn die erste Begegnung mit U-Comix der entscheidende Kick war. Aber das geschah verhältnismäßig spät, nach dem Fall der Mauer. Welche Comics spielten davor eine maßgebliche Rolle in eurer Entwicklung?

Ivo Kircheis: Als Kind habe ich Mosaik, Atze sowie «Fix und Fax» (von Jürgen Kieser) geliebt, hab da auch viel abgezeichnet. Hatte schon mit drei Jahren ein eigenes Skizzenbuch. Mit ca. 16, 17 Jahren verschwanden Comics und Zeichnen vollständig aus meinem Gesichtsfeld. Erst 1992 (da war ich 26) fielen mir in einem winzigen Dresdner Laden die ersten «Westcomix», drei U-Comix-Sammelbände, in die Hände. Die darin vertretenen Zeichner, allen voran Edika, Gotlib, Bill Griffith, Rand Holmes usw., beeindruckten mich dermaßen, daß ich kurze Zeit später mein Mikroelektronik-Studium an der TU Dresden im elften Semester mitten in der Diplomarbeit hinschmiß und beschloß, Comiczeichner zu werden.

Mamei: Vor U-Comix? Da waren vor allem die Digedags (MOSAIK 27 habe ich mindestens hundertmal gelesen), aber auch Atze, Frösi und die «Knopp»-Trilogie von Wilhelm Busch, außerdem «Agent 327» (aber ob das vorher war, kann ich nicht mehr genau sagen).

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
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