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COMIC!-JAHRBUCH 2012

Eine Liste voller Möglichkeiten
Mehr als ein Verzeichnis deutscher Webcomics

Von Christian Endres


Es ist immer schön, schnell zu finden, wonach man sucht. Das gilt auch für Comics im Internet. Ein Verzeichnis möglichst vieler deutschsprachiger Webcomics samt Informationen und Sortiermöglichkeiten ist demnach eine feine Sache. Mit dem Zentralen Verzeichnis deutscher Webcomics (www. wpedia.de) und dem Webcomic-Verzeichnis (www. webcomic-verzeichnis.de) gingen in der jüngeren Vergangenheit gleich zwei Internet-Verzeichnisdienste für die deutsche Webcomiclandschaft an den Start. Von Listen, Filtern, Visionen und Verzeichnis-Philosophien.

Schon die alten Griechen wußten es zu schätzen, Fakten zusammenzutragen und der Übersicht halber in Listenform darzustellen. An Sinn und Zweck eines klassischen Verzeichnisses hat sich dabei bis heute nicht viel geändert. Noch immer werden in zahlreichen Bereichen des alltäglichen und beruflichen Lebens Dinge und Personen verzeichnet und gelistet, egal ob analog oder digital.
Kein Wunder, daß es inzwischen selbst zwei Internet-Verzeichnisse für deutsche Webcomics gibt. Wer schon ein ums andere Mal an der mangelnden Brauchbarkeit der ausgespuckten Ergebnisse von Google und Konsorten verzweifelt ist, der wird Qualität vor Quantität und damit die Vorzüge eines gut gepflegten, kostenlosen Verzeichnisdienstes für Webcomics zu schätzen wissen, selbst wenn keine 500 Einträge angezeigt werden.
Interessanterweise beschreiten die beiden Online-Verzeichnisse trotz unvermeidlicher Kongruenzen und überschaubarem Volumen ideologisch gesehen deutlich getrennte Wege, ja entpuppen sich ihre Betreiber als Anhänger grundverschiedener Philosophien.


Wpedia.de

Das Zentrale Verzeichnis deutscher Webcomics (www. wpedia.de) wird von Oliver Knörzer betreut, der als Autor des charmanten, von der indonesischen Künstlerin Puri Andini gezeichneten Webcomicstrips «Sandra und Woo» (www.sandraundwoo.de) bereits auf kreativer Seite einiges an Webcomicerfahrung gesammelt hat.1 «Für Comics interessiere ich mich, seit ich lesen kann», erzählt Knörzer, der hauptberuflich als Softwareentwickler für ein mittelständisches Technologieunternehmen arbeitet und Bill Wattersons «Calvin und Hobbes» als seinen absoluten Lieblingscomic angibt. Das Verzeichnis-Vakuum in Bezug auf deutschsprachige Webcomics veranlaßte ihn dazu, selbst verzeichnend aktiv zu werden. «Ich war ganz einfach der Meinung, daß ein derartiges Verzeichnis speziell für deutsche Webcomics fehlt», erinnert sich der Ulmer. «Wichtig war mir, daß zu jedem eingetragenen Comic möglichst viele aussagekräftige Infos abrufbar sind.» Außerdem schreibt er den viel beschworenen Datenschutz groß und weist mit einem Grinsen auf einen weiteren Vorteil seines Verzeichnisses gegenüber großen Suchmaschinen hin: «Ich setze auf WPedia.de keine Tracking-Tools wie Google Analytics ein. Das ist doch mal datenschutzfreundlich!»
Knörzers Web-Verzeichnis punktet dabei nicht unbedingt durch eine allzu reißerische Gestaltung. Doch hinter der klassischen, textorientierten Liste und ihrer fast schon spartanischen Aufbereitung verbergen sich eben nicht nur viele Infos und viel Übersichtlichkeit, sondern vor allem auch umfassende Sortiermöglichkeiten. Mehr als zwei Dutzend Genres stehen im Verzeichnis zur Auswahl, außerdem kann nach Medium, Format, Altersfreigabe und dem Update-Status (beendet/monatlich/pausiert/unregelmäßig/wöchentlich) sortiert werden – bei knapp 40 eingetragenen Webcomics sind das fast verschwenderisch viele Filter-Möglichkeiten, aber wächst das Verzeichnis, macht sich die Etikettierung automatisch bezahlt. Vorschaubilder werden auf der oberen Ebene des Verzeichnis indes konsequent vermieden – dafür finden sich in vielen Comic-Beschreibungstexten Links zu in der Regel drei Beispielseiten, die beim Anlegen eines Eintrags hochgeladen werden. Theoretisch hat hier also jeder Künstler die Möglichkeit, sich mit drei besonders griffigen Seitenbeispielen aus seinem Webcomic zu präsentieren und auf diesem Weg innerhalb des Verzeichnisses zu promoten.
Natürlich ist der Eintrag in seinem Verzeichnis nur ein kleiner Teil des Ganzen, wie Knörzer weiß: «Generell gibt es keine magische Formel, die einen (Online-) Comic zu einem Erfolg macht. Bei längeren Geschichten spielt das Artwork sicher eine größere Rolle als bei Cartoons, wo es vor allem auf eine clevere Pointe ankommt. Was auf jeden Fall vermieden werden sollte, ist eine längere Pause ganz ohne Updates. Wenn der Comic nicht so gut ist, daß jeder unbedingt wissen will, wie es weitergeht, kann man dadurch einen Großteil seiner mühsam erarbeiteten Leserschaft verlieren. Unter den erfolgreichsten – und auch besten – deutschsprachigen Webcomics finden sich derzeit sehr viele Cartoons und semi-autobiografische Comicstrips. Im englischsprachigen Raum ist hier deutlich mehr Abwechslung geboten. Ich denke, daß es bei den meisten deutschen Internetnutzern noch nicht angekommen ist, daß es auch ein Webcomic-Leben jenseits von Nichtlustig gibt. Daher veröffentlichen viele deutsche Webcomic-Autoren ihre Comics auch auf Englisch, um einen größeren Leserkreis anzusprechen, mit unterschiedlichem Erfolg.»


webcomic-verzeichnis.de

Manfred Kooistra gehört «nicht zu denen, die schon zeichnen, seit sie einen Stift halten können», wie er selbst sagt. Trotzdem ist er Comics bereits seit über 30 Jahren verbunden und entdeckte früh Corben, Moebius, Caza und Druillet für sich. Ende der 80er begann er selbst zu zeichnen und war u. a. Mitbegründer des auflagestarken, aber kurzlebigen Comicmagazins «Rammbock». In den 90ern zeichnete er für Fanzines und verlegte ein Album im Selbstverlag. «Meine Comics waren grafisch unflexibel und inhaltlich selbstbezogen-unverständlich, und der Erfolg beim Publikum blieb entsprechend aus», urteilt Kooistra heute selbstkritisch über diese Phase, nach der er «enttäuscht das Zeichnen aufgab». Als er 2005 in Rußland als Deutschlehrer an einer Universität arbeitete, kehrte Kooistra allerdings zum Zeichnen zurück und beschäftigte sich mit dem Online-Portal deviantArt (www. devianart.com) sowie mit Webcomics und deren Machern. «Ich machte mich gezielt auf die Suche, entdeckte zahlreiche unglaublich riesenhafte englischsprachige Webcomicverzeichnisse – aber deutsche Webcomics fand ich kaum», faßt Kooistra die ersten Eindrücke zusammen, die später zu seinem eigenen Verzeichnisdienst (www.webcomic-verzeichnis.de) führen sollten. «Ich war schon länger Mitglied im Comicforum, wo ich mich angemeldet hatte, um mein Geburtsdatum in Hates Liste deutscher Zeichner2 einzutragen. Im Sommer 2009 dann, als ich konkrete Pläne für einen eigenen Webcomic zu hegen begann, kam mir bei einer Diskussion im Künstlerbereich des Comicforums die Idee, einfach selbst ein solches Verzeichnis zu erstellen. Ich stellte meine Idee in einem Thread im Comicforum vor und bat interessierte Künstler um Ideen. Wir überlegten uns einen Domainnamen und welche Features ein solches Verzeichnis haben sollte.»
Kooistras Verzeichnisdienst wirkt auf den ersten Blick eher wie ein Portal als wie ein Verzeichnis. Allerdings wartet die modisch aufgemachte Seite auf einen Ausbau unter der Oberfläche, der das Versprechen des ersten Eindrucks hält. Und auch wenn Kooistras Webcomic-Auflistung im direkten Vergleich ein wenig üppiger ausfällt – der Aufwand hält sich auch bei ihm in Grenzen, jedenfalls was das Einpflegen und Kontrollieren der eigentlichen Einträge angeht: «Mehr als eine Handvoll Stunden Arbeit im Monat habe ich mit dem Webcomic-Verzeichnis gegenwärtig nicht. Ich überprüfe Neueinträge und Änderungswünsche, korrigiere vielleicht die schlimmsten Rechtschreibfehler, manchmal weist mich ein freundlicher Nutzer auf einen Programmierfehler hin – das war’s. Für einen Neueintrag brauche ich selten mehr als fünf Minuten: Ich rufe die Seite auf, blättere und lese ein wenig herum, um die Altersempfehlung und die Konformität mit deutschen Gesetzen zu prüfen, dann schalte ich den Eintrag frei.» Heute trennt er Webcomic und Cartoon zudem strikter als zu Beginn: «Anfangs habe ich auch Cartoons verzeichnet, inzwischen habe ich die wieder gelöscht. Für mich sind das zwei unabhängige Genres mit teilweise unterschiedlichen Zielgruppen. Ich hätte dann auch andere comicnahe Genres mit aufnehmen können oder müssen (wie Illustration), und das wollte ich nicht.» Auch Kooistra denkt über weitere Sortierfunktionen und Filter nach: «Eine qualitative Auswahl treffe ich bisher nicht, aber ich denke darüber nach, ob und wie ich einen Unterschied zwischen den druckreifen Arbeiten eines gelernten Illustrators und den ersten krakeligen Versuchen eines Zwölfjährigen machen möchte. Eine Bewertungsfunktion mit gewichtetem Listing könnte dieses Problem der Unterschiedslosigkeit auflösen, oder eben eine redaktionelle Betreuung. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellen die großen Bilder auf der Startseite dar, wo ich meine persönlichen Lieblingscomics hervorgehoben präsentiere. Das sollte nur eine vorübergehende Lösung sein, ist jetzt aber aus Zeitmangel so geblieben.»


Durchblick oder Durchgang?

Die Stärken und vermeintlichen Schwächen der beiden vorgestellten Verzeichnisdienste haben primär mit persönlichen Vorlieben zu tun. Oberfläche und Design, Umfang und Breite der Liste, ausgeklügelte Filterfunktionen – jeder hat eine eigene Vorstellung vom Sortiment. Allerdings verbirgt sich hinter den unterschiedlichen Ansätzen und besonders der abweichenden Präsentation auch eine fundamentale Frage in Bezug auf die Erscheinungsform eines klassischen Verzeichnisses, das gleichzeitig mit den Möglichkeiten und Standards des Internets konfrontiert wird.
Die eigentliche Frage ist doch: Genügt es zwischen den interaktiven Ansprüchen zeitgemäßer Webseiten sowie den Erwartungen routinierter Web-User, sich puristisch der auflistenden und katalogisierenden Verzeichnis-Tradition zu verschreiben? Sicher, den Suchmaschinen hat man durch die manuelle Kontrolle der Einträge, die Fokussierung und die Filterfunktionen immer etwas voraus – aber was ist mit der Interaktivität? «Gefällt mir»-Buttons beherrschen längst das Netz, Austausch, Community und Bewertung sind die großen Stichworte in Portalen, Foren, Wikis, Shops und sozialen Netzwerken, und Ranking ist neben der Gurkenkrise höchstwahrscheinlich eines der Unworte des Jahres 2011. Welche Anforderungen stellen Webcomicleser und Verzeichnis-Nutzer also wirklich an die Interaktivität eines Webcomic-Verzeichnisses? Genügt es, daß man auf der Site selbst seinen eigenen Webcomic bzw. seinen persönlichen Lieblingswebcomicstrip eigenhändig einpflegen und somit verbreiten kann? Daß man seine Facebook-Freunde wissen lassen kann, daß einem das Verzeichnis gefällt? Wie neutral soll oder muß ein Webcomicverzeichnis darüber hinaus sein, bzw. wie neutral wäre es noch, würden seine Redakteure oder wenigstens seine regelmäßigen Benutzer anderen Usern des Verzeichnisdienstes mitteilen, was sie von Webcomic X oder Y halten?
Für Oliver Knörzer ist die Sache ebenso klar wie die Grenzen, die ein Verzeichnis nun mal definieren und somit von einem Portal oder sonst einer interaktiven Plattform abheben: «Abgesehen davon, daß ich keine Zeit dafür habe, denke ich, daß sich der Ausbau zu einem Webcomic-Verzeichnis mit aufwendigen Features eher nicht lohnt. Selbst die englischsprachigen Webcomic-Verzeichnisse sind trotz der um Größenordnungen größeren Anzahl potentieller Webcomic-Leser eine Randerscheinung geblieben. Neue Leser finden Webcomics in der Regel durch Links auf anderen Webcomic-Seiten, Bannerwerbung oder Mund-zu-Mund-Propaganda.»
Womit wir dann auch endgültig bei der Frage nach der Bündelung der Kräfte wären, die geradezu offensichtlich scheint: «Ich habe bei Manfred wegen einer Zusammenarbeit angefragt», erzählt Knörzer, «aber es hat sich schnell gezeigt, daß er andere Vorstellungen hatte.» Kooistra führt das weiter aus: «Von Frauke Pfeiffer von Comicgate.de erfuhr ich, daß Oliver zur selben Zeit an einem ähnlichen Projekt arbeitete. Ich nahm Kontakt mit ihm auf und plante mit ihm, Frauke und Sarah Burrini ein Treffen, um ein solches gemeinsames Projekt aus der Taufe zu heben. Zu diesem Treffen kam es leider nicht. Oliver wollte eine reine telefonverzeichnisähnliche Auflistung von Webcomics. Meine Pläne waren sehr viel umfassender: Ich wollte Rezensionen, ausführliche Vorstellungen der Webcomics und eine koordinierte Öffentlichkeitsarbeit aller Webcomic-Macher. Mir schwebte das Webcomic-Verzeichnis als zentrale Informationsplattform rund um den deutschsprachigen Webcomic vor. Das wäre sehr arbeitsintensiv geworden, und dazu hatte Oliver keine Lust (was ich verstehen kann), und auch andere Mitarbeiter fanden sich nicht. Alle freuten sich über das Verzeichnis, aber keiner hatte die Kapazitäten oder die Motivation, dort selbst Arbeit hineinzustecken. Ich habe dann selbst versucht, so viele der Funktionen umzusetzen, wie ich konnte, aber Öffentlichkeitsarbeit oder Rezensionen waren mit leider nicht möglich. Eine Bewertungsfunktion ist weiterhin geplant, doch leider habe ich heute eher noch weniger Zeit als vor zwei Jahren, so daß ich nicht glaube, daß ich das bald umsetzen kann.»
Viele Funktionen, viel Arbeit. Die Faktoren, die den Ausbau von Kooistras Verzeichnis zum Webcomic-Portal schwierig gestalten, sind offensichtlich. «Die Zukunft des Webcomic-Verzeichnisses ist im Moment für mich offen», erläutert Kooistra in der Folge dann auch. «Ich zeichne selbst keinen Comic und verdiene mit dem Verzeichnis kein Geld. Es ist also eine reine Fleißarbeit. Ich hatte schon überlegt, es (1) offline zu nehmen, (2) einem Nachfolger zu übergeben, (3) meine ursprünglichen Ziele mit redaktionellem Teil umzusetzen oder (4) alles so zu lassen, wie es ist. Solange es mich nicht mehr Zeit und Kraft kostet, und solange eine nennenswerte Zahl von Besuchern die Seite nutzt, werde ich das Verzeichnis weiter betreiben. Irgendwann aber werde ich eine Entscheidung fällen müssen: Entweder ich baue das Verzeichnis weiter aus, oder ich gebe es auf. Ob die Gefällt mir-Buttons oder redaktionellen Beiträge für die Nutzer notwendig sind, kann ich nicht sagen. Das Webcomic-Verzeichnis ist ein nicht-kommerzielles Projekt und soll es auch bleiben, ich bin also nicht darauf angewiesen, dort eine möglichst zahlreiche Community durch Hype-Nebensächlichkeiten anzulocken. Gleichzeitig befriedigt mich das Verzeichnis in seiner gegenwärtigen Form nicht. Ich möchte, daß es an Bedeutung gewinnt und der Ort wird, wo jährlich der beste deutsche Webcomic gekürt wird. Daß das auf der Buchmesse stattfindet, widerspricht dem Prinzip Webcomic.»
Doch wer weiß? Womöglich kann das gute alte Printmedium ja dem ambitionierten Verzeichnis in der digitalen Welt helfen: «Mal schauen, ob sich vielleicht nach diesem Interview jemand bei mir meldet», formuliert Kooistra seine Hoffnung für seine Vision eines deutschsprachigen Webcomicverzeichnisses, das möglichst viel von seinem Potential ausschöpft. «Jemand, der Lust hat, gemeinsam mit mir das Webcomic-Verzeichnis zu dem zu machen, was es sein könnte: Die zentrale Anlaufstelle zum Thema Webcomic im deutschsprachigen Raum.»

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
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