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COMIC!-JAHRBUCH 2011

Bester Independent Comic:
«Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens» von Ulli Lust

von Clemens Heydenreich

COMIC!: «Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens» ist von der Kritik unter anderem als ein «Road-Movie» bezeichnet worden. Und in der Tat könnte man sich diese Geschichte recht gut in einer Kino-Version vorstellen. Wenn jemand aus der Filmbranche bei dir um die Rechte anfragen würde – was würdest du antworten? (Und hat es vielleicht sogar schon jemand getan?)

Ulli Lust: Es gab zwei Anfragen von kleinen Firmen, beide waren nicht realistisch. Freunde von mir aus der Filmbranche sagen, es würde wegen der vielen Außendrehs ein teurer Film. Teure Filme leiden häufig unter einfachen Botschaften, deshalb sehe ich einer Drehbuchversion nicht sehr enthusiastisch entgegen. Was natürlich als Gedankenspiel Spaß macht, ist, sich das Casting vorzustellen.

COMIC!: Auf die Eingangsfrage kam ich nicht nur wegen der Metapher vom «Road-Movie». Sondern auch, weil man ja einen Teil des zweiten Kapitels in seiner ursprünglichen Form noch in Flitter 01 nachlesen kann. Und da scheint mir, daß du bei der Überarbeitung manche Bildverläufe «flüssiger» gestaltet hast, man könnte auch sagen «filmischer». Siehst du das auch so?

Ulli Lust: Die Überarbeitung diente der Verbesserung. Es ist ja wünschenswert, die Panelfolgen im Comic flüssig zu gestalten. Ich hoffe, mein Comic ist comichafter geworden.

COMIC!: Du hast dich, bevor du zum Comic kamst, vor allem mit Illustration beschäftigt. Nun aber hast du den dicksten deutschsprachigen Bild-Roman vorgelegt, den es bislang überhaupt gibt. Das ist ein denkbar weiter Weg – von einzelnen Bildern, die nur Teilaspekte eines vorgegebenen Textes veranschaulichen, bis hin zu Bildern, die den Erzählfluß selbst tragen, und dann noch über die «Langstrecke».

Ulli Lust: Jetzt wo du es sagst, fällt mir der Kontrast auf. Die Entwicklung sieht ein wenig abenteuerlich aus, ist aber relativ geradlinig: Ich habe selten (für Auftragsarbeiten) Einzelillustrationen gemacht, alle meine wichtigen Arbeiten sind Sequenzen, auch die frühen Bilderbücher erzählen in ganzseitigen aufeinanderfolgenden Doppelseiten. Ich denke nicht in Einzelbildern, sondern in Szenen. Deshalb waren die Techniken des Comic für mich eine großartige Entdeckung. Der größte Vorteil, den sie gegenüber ganzseitigen Bildfolgen haben, ist, daß man damit so wunderbar Zeit choreografieren kann. Das Inszenieren von Zeit mit den Mitteln der Zeichnung ist einer der Aspekte, die mich sehr faszinieren. Nebenbei bemerkt: Unter «Mittel der Zeichnung» habe ich eine sehr weite Vorstellung, ein «comichafter» Zeichenstil ist nicht zwingend notwendig.
Den Plan, einen langen Comic zu schreiben und zu zeichnen, gab es schon länger, die Figuren sollten Zeit für eine Entwicklung haben, ich wollte verschiedene Erzählstränge flechten, komplexer erzählen. Der erste Versuch mißlang leider, es war ein doku-fiktionaler Comic über die Geschichte eines Hauses in Berlin, nach zwei Jahren und 150 Seiten habe ich kapituliert. (Eines der besseres Kapitel daraus kann man in Plaque 2 nachlesen). Der Comic war insgesamt noch nicht gut genug, aber taugte wenigstens als Diplomarbeit. Die Arbeit hat unendlich viele historische Recherchen gekostet, danach kam mir das Schreiben eines autobiografischen Textes wie ein Kinderspiel vor.

COMIC!: Bitte fasse doch noch einmal zusammen, in welchen technischen Schritten «Heute ist der letzte Tag ...» entstanden ist. Insgesamt hat deine Arbeit daran fast vier Jahre gedauert. Welche Etappen der Überarbeitung gab es bis zum Buch?

Ulli Lust: Anfang 2004 habe ich die Geschichte aufgeschrieben, Erinnerungen zusammengesucht, alte Tagebücher konsultiert. Die erste Szene sah ursprünglich ganz anders aus, länger als sie in der Vorveröffentlichung auf electrocomics.de zu lesen ist, sie war auch noch mit Tusche und Pinsel gezeichnet. Es gab glaube ich an die vier Versionen der Anfangsszene, daran habe ich viel zu lange herumgedoktert. Im nächsten längeren Comic versuche ich, die erste Szene nicht so wichtig zu nehmen und weiter in die Geschichte einzudringen mit dem Bewußtsein, daß die erste Szene ohnehin am Ende neugezeichnet werden muß. Grundsätzlich ist es günstig (nicht nur bei geradlinigen Entwicklungsgeschichten), mit dem Anfang zu beginnen und sich vorzuarbeiten, man bekommt ein organisches Gefühl für das Timing und den dramaturgischen Bogen. Die ersten 80 Seiten mußte ich dann trotzdem nochmal zeichnen, weil sich mittendrin herausstellte, daß der simple Bleistift die bessere Technik für diese Geschichte ist. Danach ging es gut voran, und so ab Seite 100 hatte ich das Gefühl, jetzt wird es langsam. Ich habe dann zu zählen aufgehört und bin Weihnachten 2007 etwas erschrocken, weil es plötzlich 350 Seiten waren und das große Finale (das Wiedersehen mit Edi in Palermo) noch fehlte. Dem Verleger hatte ich 250 Seiten angekündigt, und der nun fast doppelte Umfang erhöht leider die Druckkosten, während man den Verkaufspreis nicht angemessen miterhöhen kann.
Der Plan war aber von Anfang an, der Geschichte den Raum zu geben, den sie braucht. Im letzten Jahr habe ich Details überarbeitet, einzelne Szenen verlängert, andere gekürzt und – was wirklich unangenehm war – vor allem koloriert und gelettert.

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
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