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COMIC!-JAHRBUCH 2009

Die Graphic Novel in Deutschland
Eine kleine Geschichte der romanhaften Comics

Von Klaus Schikowski


Die Graphic Novel hat nun auch den deutschen Comic erreicht. Umfangreichere Arbeiten widmen sich der Autobiografie oder auch der Biografie berühmter Persönlichkeiten und werden in den Medien geradezu euphorisch aufgenommen. Dort ist dann auch schon einmal gerne von der Generation der neuen deutschen Erzähler die Rede. Wer aber sind dann die «alten» deutschen Erzähler? Gab es schon vorher Generationen deutscher Erzähler im Comic? Wenn es also plötzlich so etwas wie eine deutsche Graphic Novel zu geben scheint, wo kommt sie her und was sind ihre Ursprünge?

Zugegeben, es ist ein wenig müßig, über diesen scheinbar neu eingeführten Begriff der Graphic Novel zu debattieren. Man kann ihn mögen, muß es aber durchaus nicht tun. Daß aber eine Veränderung stattfindet, ist deutlich. Allein ein Blick auf die Preisträger der letzten Jahre des ICOM Independent Comic Preises genügt, um sich zu vergewissern, daß einige Titel der Form der Graphic Novel zuzurechnen sind. Line Hoven, Reinhard Kleist, Stefan Atzenhofer oder Arne Bellstorf u. a. arbeiten alle unabhängig von Format und Seitenzahl, und ihre Arbeiten gehören zu den Ambitionierteren in deutschen Landen. Mitunter werden sie sogar in eine Berliner und in eine Hamburger Schule eingeteilt, je nachdem wo ihre Arbeiten entstanden sind. Zumeist haben die Autoren und Autorinnen studentischen Hintergrund, was sicherlich für eine gesonderte Auseinandersetzung mit der Form spricht – das Fach «Graphic Novel» wird jedoch noch nicht an deutschen Hochschule unterrichtet.
Denn immer noch streiten sich die Gelehrten, was denn nun eine Graphic Novel eigentlich ist. Man könnte einen ganzen Artikel, ja ganze Bücher einzig und allein nur über die Definitionsfrage des Begriffs Graphic Novel schreiben. Denn eine genauere Definition dieses Begriffs gestaltet sich schwierig, da er in verschiedenen Kontexten auch immer wieder anders gebraucht wird. Letztendlich ist er synonym für den deutschen Begriff «grafischer Roman». Damit ist er auch gleichzusetzen mit dem Comic-Roman bzw. dem Autorencomic, denn alle Begriffe meinen in etwa das gleiche. Man könnte auch sagen, daß es sich um einen Comic mit einem anspruchsvollen oder ernsthaften Thema handelt.
Der Begriff der Graphic Novel ist alt genug, um im allgemeinen Comic-Diskurs eine Rolle zu spielen – schließlich wurde er 1978 das erste Mal offiziell verwendet – aber anscheinend auch frisch genug, um damit eine neue Strömung innerhalb der deutschen Comic-Kultur zu beschreiben. Der deutsche Autoren-Comic schlief noch tief den Schlaf der Gerechten, als ein Band erschien, der international für Aufsehen sorgte, weil plötzlich Geschichten mit einem literarischen Anspruch erzählt wurden. Die Rede ist von Will Eisners 1978 veröffentlichtem «A contract with God», einer Sammlung von vier Kurzgeschichten über eine New Yorker Nachbarschaft, die inhaltlich nicht direkt miteinander verwoben sind, aber trotzdem thematische Zusammenhänge aufzeigen. Im allgemeinen wird dies als die erste Graphic Novel gesehen. Wie Will Eisner einmal im Interview mitteilte, war es ihm wichtig, daß er die Freiheiten von «Format und Raum» nutzen konnte, d. h. er nahm weder Rücksicht auf die damals gängigen Formate des Comic Books in Amerika und er nahm sich soviel Zeit zum Erzählen, wie die Geschichte, die er erzählen wollte, benötigte. In seinem Buch «Comics and Sequential Art» («Mit Bildern erzählen», ComicPress 1995), erklärt er zudem, was das besondere an den Geschichten ausmachen müsse: «Die Relevanz der Themen». Damit sind die drei Parameter genannt, die für die Einordnung einer Graphic Novel am wichtigsten sind: Angemessenes Format, Länge und Relevanz des Inhalts. Hinzukommen sollte noch eine möglichst adäquate Umsetzung von Form und Inhalt. Wenn also die perfekte Synthese von Artwork und Literatur gelungen ist, läßt sich von einer Graphic Novel sprechen.
Will Eisners Band erschien dann im August 1980 auf deutsch bei Zweitausendeins in einer originalgetreuen Ausgabe. Der Untertitel war: «Eine Geschichte in Bildern». Die Frage, die sich nun unweigerlich stellen sollte, ist jene: Welche Auswirkungen auf den deutschen Comic hatte die Veröffentlichung der ersten Graphic Novel?
Und an diesem Punkt muß man leider feststellen: Zunächst gar keine! Am Ende der 70er Jahre war Deutschland fest in der Hand von Kiosk-Comics. Das womöglich progressivste Magazin jener Zeit war dann auch das Magazin Zack, welches in Fortsetzungen frankobelgische Abenteuerserien veröffentlichte. Zack war allerdings so erfolgreich, daß das Magazin aus dem Koralle-Verlag nach Frankreich, Belgien und Holland mit Super-As und Wham expandieren konnte. Die einzige deutschsprachige Serie aus Zack war die unter dem Einfluß frankobelgischer Comics aus den 70er Jahren entstandene Serie «Turi und Tolk» von Dieter Kalenbach, die zwar auch längere Geschichten zu erzählen wußte, sich aber eindeutig an ein jüngeres Publikum wendete, was schon am Personal (Turi, ein Junge aus Lappland, sein treuer Freund, der Adler Tolk, und der Großvater von Turi) deutlich wird. In den Geschichten geht es denn auch um Schmuggler, Räuber oder ähnliche Delikte, die es aufzuklären gilt – reinster Abenteuercomic also. Der Comic-Experte Bernd Dolle-Weinkauff zieht zu diesem Umstand ein trauriges Fazit: «... gelang es während der siebziger Jahre keinem der deutschen Zeichner, nennenswerte Leistungen zur Entwicklung der episch ausgerichteten Comics beizutragen.» (Dolle-Weinkauff, S. 260)

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
Oktober 2008
240 Seiten S/W
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