Lektüre
 Independent Comic Shop   ICOM-Publikationen   Kostenlos   Fachmagazine   Sekundärliteratur 
Das COMIC!-Jahrbuch | Das ICOM!-Handbuch | Der ICOM!-Ratgeber
FILMRISS | Das verbandseigene Fachmagazin
COMIC!-JAHRBUCH 2008

Blutspur in Europa:
Morde an Comickünstlern

Eine Glosse von Britta Madeleine Woitschig


(Brüssel/Angoulême/Paris/Stuttgart) Statistisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit für Autoren von Comics, ermordet zu werden, zwar nicht ausgeschlossen, aber eher zu vernachlässigen. Mir sind jedenfalls keine realen Fälle bekannt. Unfälle im Straßenverkehr, Freitode und Altersschwäche finden sich weitaus häufiger. Die Fakten stehen jedoch in auffälligem Kontrast zu den gezeichneten Indizien, die sich seit 1991 merkwürdigerweise nur in Europa häufen, genauer gesagt: im Dunstkreis der beiden ehrwürdigen frankobelgischen Traditionen Ligne Claire und École Marcinelle.
Scheinbar harmlos begann das Verhängnis mit zwei Einzelbänden zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. 1991 debütierte der Zahnarzt Alain Grand mit dem Einzelband «Opération Comics», der sich grafisch als Hommage an den Klassiker «Blake et Mortimer» von Edgar P. Jacobs verstand und im folgenden Jahr unter dem Titel «Tod eines Comiczeichners» als 14. Band der Reihe Carlsen Lux erschien. Bereits 1989 erwies der Verlag Magic Strip dem deutschen Liedermacher und Comiczeichner Burkhard Ihme die Ehre, einen Band der gerühmten Reihe Atomium 58 zu gestalten. Für den Ritterschlag, mit dem der Stuttgarter in die Tafelrunde der besten Comicautoren Europas aufgenommen worden wäre (u.a. publizierten Yves Chaland, Serge Clerc, Frédéric Bézian, Philippe Foerster, Daniel Torres, Charles Berberian und Philippe Dupuy sowie Chris Scheuer in der Reihe), konzipierte er das Album «Die grüne Eisbombe», dessen Drucklegung sich verzögerte und verzögerte.
In beiden Bänden werden Comiczeichner ermordet, aber was bedeutet das? Scheinbar ziemlich wenig, denn die Werke stehen als Solitäre außerhalb etablierter Reihen und stammen von Außenseitern, deren Namen dem großen Publikum nichts sagen. Und dennoch scheinen gerade diese Außenseiter etwas gespürt (wie Fräulein Smilla?) zu haben, das anderen entgangen ist. Das ist nicht schwer zu erraten: mal wieder eine Krise des Marktes. Mit den Werken von Frank Miller und dem Brit Pack (u.a. Alan Moore und Neil Gaiman) hatten sich die Superhelden als ernsthafte Konkurrenz auch in Europa zurückgemeldet. Hergé und Chaland waren schon tot, und junge Talente wie Trondheim und experimentierfreudige Gruppen wie l’Association, Amok und Fréon krempelten die Ärmel hoch, um Opas Comic zu begraben. Die Krise war ein Menetekel, das einen ästhetischen Umbruch ankündigte – und danach war nichts mehr wie zuvor.
Fast zehn Jahre gingen ins Land, bis sich neue Leichen fanden. Diesmal jedoch bei Veteranen wie Tibet, André-Paul Duchâteau, Corteggiani und Benoît Sokal, die als Autoren und Zeichner mehrere Jahrzehnte Erfahrung auf dem Buckel haben und deren Serien inzwischen zum Urgestein der Tradition zählen bzw. gezählt werden wollen. Die Klammer zu den vergangenen Fällen bildet Ihmes Band, der 2002 endlich veröffentlicht wird, während auch im deutschsprachigen Raum die Übersetzungen der Serien in die Hände treuer Fans finden. Jeder Band liest sich wie ein Schwanengesang, durch den ein Verlust betrauert wird, der Verlust eines Mythos: des Mythos vom ewigen frankobelgischen Comic, der besser ist als jeder andere.
Das Publikum denkt offenbar anders, denn es liest begeistert Manga jeglicher Provenienz und immer mehr Graphic Novels. Das Publikum wächst, zumal der Anteil der Leserinnen auch in den Läden sichtbar steigt, was eigentlich als Erfolg gefeiert werden müßte, da der Ausbruch aus dem (männlichen) Fandom in der Regel vergeblich versucht wurde. Aber mit dem Erfolg verbindet sich eine Kränkung der Grande Nation de bande dessinée, denn der Anteil der einheimischen Produktion sinkt seit Jahren kontinuierlich. Der Traum von der Hegemonie auf dem eigenen Kontinent ist schmerzhaft geplatzt. Die Abbilder der imaginierten Berufskollegen sind (hilfreiche?) Versuche zu begreifen, daß die BD ein Teil eines extrem lebendigen Mediums sind – neben anderen.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2008
  Alle Jahrbücher
Comic Jahrbuch 2009
Comic Jahrbuch 2008
Comic Jahrbuch 2007
Comic Jahrbuch 2006
Comic Jahrbuch 2005
Comic Jahrbuch 2004
Comic Jahrbuch 2003
Comic Jahrbuch 2001
Comic Jahrbuch 2000
COMIC!-Jahrbuch 2008
Burkhard Ihme (Hrsg.)
Oktober 2007
232 Seiten S/W
EUR 15,25
BESTELLEN