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Burkhard Ihme (Hrsg.)
Oktober 2003
256 Seiten DIN A4, S/W
EUR 15,25
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COMIC!-JAHRBUCH 2004

Hergé und die Deutschen
Essay zum 75jährigen von "Tim und Struppi"

Von Martin Frenzel

Als der Schweizer Bilderromancier Rodolphe Töpffer vor 170 Jahren mit seinem "Monsieur Talbot" 1833 den ersten europäischen Comic schuf, da war dies der Beginn einer Entwicklung, zu der einer ganz besonders beitragen sollte: der Belgier Georges Remi alias "Hergé" (1907 -1983). Nicht umsonst gilt Hergé, der Schöpfer jener legendären, grafisch wie narrativ gradlinigen Comic-Stilrichtung, der "Ligne Claire", wie sie Joost Swarte Jahrzehnte später treffend nannte, als der eigentliche Ahnvater der europäischen Comic-Kultur. War die Bildgeschichte zu Töpffers Zeiten noch eine relativ exklusive "Literatur im Bilde", so avancierte sie nicht zuletzt dank Hergé zu einem qualitätsbewussten Massenphänomen.
Fünfundsiebzig Jahre "Tintin" - oder auf deutsch gesagt: "Tim und Struppi" -, jenes Hergé-Klassikers, der am 10. Januar 1929 erstmals in der Jugendbeilage "Le Petit Vingtième" (Das kleine 20. Jahrhundert) der katholisch-konservativen Zeitung "Le Vingtième Siècle" das Licht der Welt erblickte, sind ein guter Anlass, Bilanz aus deutscher Sicht zu ziehen: Wie war es eigentlich, Hergés Verhältnis zu den Deutschen? Wie kommt es, dass der rasende Reporter Tim mitsamt Struppi (Milou) und Kapitän Haddock, Schulze und Schultze die halbe Welt und sogar das Weltall bereist (von Lateinamerika bis Indonesien, von Schottland bis in den Kongo, von China bis zum Mond) - nur kein einziges Mal Deutschland? Und schließlich: wie entwickelte sich der Weltbestseller "Tim und Struppi" in deutschen Landen? dass der Däne Per Carlsen, Verleger des gleichnamigen Kopenhagener Familienunternehmens, der Serie in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren zum Durchbruch verhalf, passt da irgendwo ins Bild. Denn Hergés Verhältnis zu den Deutschen war - gelinde gesagt - zwiespältig: Das lässt sich biografisch nachvollziehen, waren es doch die Deutschen und Hitlers Wehrmacht, die Hergés Heimat Belgien überfielen, die ihm seine künstlerische Freiheit raubten (das Tintin-Abenteuer "Im Reich des Schwarzen Goldes", das noch bis zum 8. Mai 1940 lief, musste jäh abgebrochen werden; "Die schwarze Insel" und "Tim in Amerika" wurden von den deutschen Zensurbehörden verboten) und ihn sogar dazu bringen wollten, für die Gestapo zu arbeiten (was Hergé erfolgreich abwehrte).
Aber diese Ambivalenz spiegelt sich auch in seinem Lebenswerk "Tim und Struppi" wider: denn, genau besehen, stimmt es gar nicht, dass Hergé sich den Deutschen dort nicht gewidmet hätte, ganz im Gegenteil. So sind seine drei noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstandenen Alben "Die schwarze Insel" (Urfassung 1937, Endfassung 1966), "König Ottokars Zepter" (Urfassung 1938, Endfassung 1947) und "Im Reich des schwarzen Goldes" (1939, Endversion 1971) wunderbare Belege dafür, wie sehr sich Hergé scharf mit dem deutschen Nationalsozialismus, deutschen SS-Staat und deutschen "Führer" Hitler auseinander setzte. So hat in dem Schottland-Abenteuer "Die schwarze Insel", das zu den grafisch gelungensten Tim-Alben gehört und auch in der Bundesrepublik zum mit Abstand meistverkauften Tim-Album geriet, jene Figur des deutschen Superschurken "Dr. Müller" ihren ersten Auftritt, dem weitere in "Reich des Schwarzen Goldes" und noch einmal - nach dem Hitlerkrieg - in "Kohle an Bord" (1956 im Magazin TINTIN, Album 1958) folgen sollten. Dr. Müller verkörpert nicht die brandschatzende und mordende SA der Reichspogromnacht, sondern vielmehr den Typus des eiskalten, effizienten, nach außen hin sich indes mit der Maske des bürgerlichen Biedermanns tarnenden Weltanschauungstäters - mithin jenes Typus‘, wie sie aus bestem Hause stammende Akteure der NS-Eliten wie Werner Best verkörperten.

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