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ICOM Independent Comic Preis
Die Gewinner des ICOM Independent Comic Preises 2023
Bester Independent Comic (Selbstveröffentlichung)

"Drinnen"
von Sascha Dörp

1. Januar 2021: Während sich der überwiegende Anteil der menschlichen Erdbewohner im "Verarbeitungsmodus Jahreswechsel" befindet, sitzt eines dieser Wesen irgendwo an einem Schreibtisch. Es zeichnet. Das Wesen ist Sascha Dörp, der den perfiden Plan in die Tat umsetzt, ein Jahr lang an jedem Tag ab dato ein neues Panel im Social Web zu veröffentlichen, vollkommen gratis - 365 Stück an der Zahl. Und so ward Drinnen geschaffen.
Der Titel an sich wirkt neutral. Drinnen ist halt nicht draußen. Wer Sascha kennt, ahnt, dass das nicht alles ist. Das Deckblatt: ein Rapport aus Beton und Glas. Eine Wohnbatterie - normiert, stereotyp - eine kompakte Modul-Einheit. Darüber der Titel in dürren Lettern mit einem blutroten I, welches sich nach unten hin ergießt. Spätestens jetzt ist gewiss: Hier stimmt was nicht. Der Untertitel bestätigt die Vermutung: Horror im Plattenbau. Zeitlich ist die Geschichte um das Jahr 1984 angesiedelt. Und da liegt er auch schon: der blutige Hammer! Ab jetzt gibt es kein zurück mehr – die Geschichte baut sich auf.
Am Tisch sitzt Oliver, der nach dem Tod des Vaters mit seiner Mutter in den Plattenbau zog. Draußen ist der Regen so stark, dass die Schule ausfällt. Langeweile deutet sich an, denn Oli kennt niemanden im Block. Da ruft ihm die Mutter im Gehen zu, er möge doch mit dem Fotoapparat losziehen. Das macht der Junge prompt und entdeckt in den langen Fluren etwas, das er nie erwartet hätte. Ist es menschlich, ist es ein Gefühl, existiert es nur in seinem Kopf? Oli mag es nicht hier. Er sucht Motive. Aufzug - Etage 13 - eine fiese Hochhaus-Gang macht Stress - Oli flüchtet, findet Marillo und andere Kinder. Sie bilden einen wilden Haufen illustrer Individualisten, die so gar nicht ins triste Graumassiv passen. Als "Geheimbund" versuchen sie, einfach Spaß zu haben. Der merkwürdige Nachbar mit dem Rautenmusterpulli weckt Furcht. Tobi verschwindet, dann weitere Kinder. Zeit wiederholt sich, Perspektiven summieren sich, Hinweise zeigen sich – die Spannung steigert sich rasant, reißt den Grusel mit sich.
Der ICOM zeichnet "Drinnen" als besten Independent Comic in der Kategorie "Selbstveröffentlichung" aus. Sascha Dörp hat hier ein Werk geschaffen, welches uns das Blut in den Haar-Follikeln gefrieren lässt, was zu einer Gänsehaut führt, die sich sowohl ektodermal wie endodermal ausprägt.
"Drinnen" ist ein Sammelsurium von Fragmenten menschlichen Denkens, Spürens, Verhaltens, Seins. Der Plattenbau – ein vielschichtiger Ort. Verschlungene Gänge, sozialer Brennpunkt. Mehr wird nicht verraten!
Danke Sascha, dass du uns über die eigene Wahrnehmungsgrenze gestoßen hast. Die Asche der voreiligen Schlüsse flimmert noch in der Luft. Herzlichen Glückwunsch an dich!

Sandra Nußer

Beschreibung und weitere Abbildungen in unserem Blog

Bester Independent Comic (Verlagsveröffentlichung)

"Diebe und Laien"
von Franz Suess
(Avant Verlag)

Dem Comic-Lesepublikum (und unserer Jury) ist der 1961 in Linz geborene Autor, Zeichner, Fotograf und Keramiker längst kein Unbekannter mehr. Ein 24-Stunden-Comic soll ihn 2010 inspiriert haben, es mit einer größeren graphic novel zu versuchen (liest man die ältesten auf seiner Website verfügbaren Comics nach, gewinnt man den Eindruck, dieser Künstler war damals längst angekommen, wo er hinwollte, seiner Stilmittel, Ansichten und Absichten vollkommen sicher). 2022 schaffte es "Ort (in Aspern)", die düstere Geschichte einer Gay-blind-date-Katastrophe, nach einhelligem Votum in die Vorauswahl des ICOM-Preises. Mit "Diebe und Laien" liegt nun ein Meisterwerk vor, ein veritabler Milieuroman in Bildern.
Suess schildert den Alltag, die Geheimnisse, das Glück und die Verzweiflung der Bewohner einer Vorstadt. Die Protagonisten, deren Gesichtern der Zeichner immer sehr nahe rückt – viele Großaufnahmen, als wolle er die Verletzungen im Minenspiel sichtbar machen –, sind keine strahlenden Siegertypen. Als Dienstleister, Rentner, kleine Beamte, Malocher und Studenten ertragen sie ihr Leben mehr, als dass sie es erleben – ein Alltag, der auf Kante genäht ist, eine Freiheit, die gerade mal zum Weiterexistieren reicht. Illustriert werden die sich verhängnisvoll kreuzenden Schicksale in großflächigen Bildern im Aquarell- und Schraffur-Stil, manchmal verschwommen wie durch eine versehentlich – bei normaler Sehkraft – aufgesetzte Plusbrille gesehen. Ein Erzählstil, der an Kinderbuchseiten erinnert, während die Geschichte für Erwachsene erzählt wird, mit nie mehr als vier Panels auf einer Seite, mit sparsamen Dialogen und seltenen, meist geringfügig erscheinenden, im Rückblick aber aber entscheidenden Details – wie das vermisste, händeringend gesuchte Objekt, um das sich doch alles drehen sollte, und das am Ende völlig unbeachtet im Gebüsch liegt und beinahe unserer Aufmerksamkeit entgeht.
Im letzten Drittel werden die düsterbunten Farben unversehens licht und kräftig, ein Intermezzo zeigt bei Tageshelle eine hundert Seiten zuvor in der Nacht ausgebrannte Glühlampe, die von Fliegen umschwirrt und für diese zum gläsernen Globus wird. Die Fragen, die sich an diese Szene knüpfen, bilden den Schlüssel für die auf eigentümliche Weise handlungsarme und nuancenreiche Story: Der transparente Erdkreis des Franz Suess ist von müden und sturen Verlierern bewohnt, die einander unbehaust umkreisen, durch Zufall begegnen und verlieren und nicht wiederfinden, und sich nur höchst selten anlächeln. Zugleich wird in den stillen Bildern dieser vier Geschichten behutsam ein Krimi entwickelt, den die Polizei nicht aufzuklären weiß, der von Verlusten und Liebesverrat, von grundlosem Argwohn und gegenseitiger Erpressung handelt. Das melancholisch-finstere Szenario, das auf den Krieg aller gegen alle hinauszulaufen scheint, wird am Ende ebenso plötzlich hell, wenn sich die Erkenntnis von der Menschlichkeit der "Laien" auf dieser kunstvoll ausgeleuchteten Bühne durchsetzt, und sich die Unschuld aller Beteiligten an diesem Diebesspiel erweist: Ein durchaus politischer, aber nicht anklagender, ein gegen die Gewalt- und Machtverhältnisse protestierender, aber nicht ideologisch vorgeprägter Comic, der sich auf das Abenteuer der genauen Beobachtung und Realitätsschilderung einlässt.


Nikolaus Gatter

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Bester Independent Comic (Sonderpreis)

"Tick Tock – Kult Geschichten 1"
von Michael Mikolajczak (Storys) und Paolo Massagli, Holger Klein, Ernesto "Erggo" Rodriguez, Christian 'Zano' Zanotelli, Erik van Schoor, Sascha Dörp, Chris W. Jany und Jacek Piotroski
(Kult Comics)


Was eine Anthologie ist, dürfte jedem hinlänglich bekannt sein. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet der Begriff so viel wie Blütenlese, also eine Zusammenstellung bzw. Auslese von besonderen "Blüten". Und, oh ja, die Blüten dieser Anthologie sind etwas Besonderes. Sie haben alle irgendwie etwas mit dem Tod zu tun. Sei es der gewaltsame Tod, der Tod durch Krankheit, der seelische Tod oder der mediale, es geht stets mehr oder weniger morbide zu. Und ist es nicht gerade die Eigentümlichkeit solcherlei gruseliger Morbidität, gepaart mit Sensationslüsternheit und dem Wissen um die eigene Sicherheit als Rezipient derartiger "Moritaten", die den Menschen immer wieder in ihren Bann zieht?
Als Autor der in dem Werk enthaltenen acht Comic-Short-Storys zeichnet Michael Mikolajczak verantwortlich. Zusammen mit acht verschiedenen Künstlern hat er sich dieser Art der Unterhaltung angenommen. Dabei sind die einzelnen Geschichten nicht nur auf Schock-Effekte oder gepflegten Grusel ausgerichtet. Es bleiben bei den meisten von ihnen auch die verschiedensten Gefühle zurück, deren Palette von Genugtuung über Bedauern und Verärgerung bis hin zu Ratlosigkeit oder erstauntem Interesse reicht. Die Inhalte wurden auch nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern beziehen sich in etlichen Fällen auf reale geschichtliche Hintergründe und Begebenheiten. Da geht es beispielsweise um den AC-DC-Streit von Tesla und Edison und die erste Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, um Robert Leroy Johnson, den King des Delta Blues, und den Klub 27, um die Hintergründe eines Mordanschlags auf die Pop-Art-Ikone Andy Warhol oder um die seltsame Geschichte der sogenannten Manchester-Mumie aus Birchen Bower. Dem hohen Unterhaltungswert steht also noch ein gewisser Lern- und Bildungseffekt zur Seite.
Die Auswahl der Künstler gestaltet sich international. Neben Deutschland standen ihre Wiegen auch in Italien, Venezuela und Polen. Das jeweilige Artwork harmoniert mit Inhalt und Narrativ der jeweils passenden Geschichte. Sascha Dörps filigrane Outlines mit den fetten schwarzen Schattierungen und der Farbgebung alter Fernsehfilme vom Beginn der 1970er Jahre fangen das Flair der Hippie-Zeit genauso ein, wie die expressive Strichführung von Jacek Piotrowski die Ängste der Hannah Beswick Ende des 18. Jahrhunderts atmen. Paolo Massaglis Zeichnungen, die an atmosphärische Hellboy-Comics erinnern, untermalen ihren Axtmord genauso perfekt, wie Ernesto Rodriguez Schwarz-Weiß-Kunst den Blues alter 40er-Jahre-Zeitungscomics festhält. Geradezu nahtlos fügen sich auch die Stile von Christian Zanotelli, Holger Klein, Chris W. Jany und Erik van Schoor in das künstlerische Gesamtpaket von "Tick Tock" ein. Da gibt es keinen "Ausreißer", keine Kurzgeschichte, die innerhalb der Anthologie sowohl grafisch als auch erzählerisch stören würde. Einheit in der Vielfalt. Mit dem bereits erwähnten Anspruch.
Gewissermaßen als Bonus wurden dem Comic-Buch auch noch Einblicke in die Skizzenbücher der jeweiligen Künstler sowie kurze Biografien nebst Porträts aller am Werk Beteiligten beigefügt. Ein Rundum-Paket.
Der diesjährige ICOM Independent Comic-Preis für eine besondere Leistung oder Publikation geht an das Autoren- und Zeichner-Team der Comic-Anthologie "Tick Tock – Kult Geschichten 1". Herzlichen Glückwunsch!

Dirk Seliger

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Nominiert für den ICOM-Preis waren außerdem:
"Acid Accessories #0"
von Daniel Andrew Wunderer (Text) und Sascha Vernik aka Revkin (Illustration)
(Selbstverlag)

Loveable Lizzy war einmal ein aufsteigender Stern unter den Influencer*innen der Kosmetikindustrie. Das Vorzeigehäschen von Bubbleglam Cosmetics. Mothers Wonder Child. Die brave Tochter der Family Foundation. Nach einem Transmission-Break von fünf Jahren entscheidet sich Lizzy allerdings, ihrer Family einen kleinen Anstandsbesuch abzustatten. Könnte ziemlich ugly werden, aber zum Glück gibt es eine üppige Auswahl an Filtern, die Lizzys kleinen Rachefeldzug in einen fancy Spaziergang durch Alices Wonderland verwandelt.
Da wird man als Leser einfach so in eine grelle Cyberpunk-Welt hineingeworfen und sich selbst überlassen. Schon nach den ersten paar Seiten wird klar: Die in "ACID Accessories" vorgestellte Welt ist bei Weitem nicht so nett und kinderfreundlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Sprache ist bubbly, die Antagonisten sind cute aussehende Furries und wenn einer der Figuren mal die Hand ausrutscht, wird der Gewaltakt durch niedliche Emojis und rote Herzchen kaschiert. Alles live und schön verfälscht. Je weiter Lizzy in den Kaninchenbau vordringt, umso klarer wird es: Ungefiltert sieht die Realität der kunterbunten Welt vermutlich ganz anders aus.
"Acid Accessories" von Daniel Wunderer und Revkin besticht durch eine knallige Farbpalette, abgedrehtes Charakterdesign und eine Story, die sich gewaschen hat. Nichts für schwache Nerven, aber so was von nice! Wer auf den Geschmack gekommen ist, darf sich in Zukunft auf eine Fortsetzung von Lizzy und ihren Kampf gegen die Family Foundation freuen. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Heft um die Ausgabe Nummer Null handelt.

Adroth Rian

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" Coming of H"
von Hamed Eshraty
(Avant Verlag)

Eine deutsch-iranische Jugend in den westdeutschen Neunzigern, mit allem, was dazugehört. Der Autor stellt sein eigenes Erwachsenwerden in ein nachsichtig-humorvolles Licht autobiografischer Betrachtung und schildert, wie Hamed die erste Liebe erobert und wieder verliert, wie die Ehe der Eltern kriselt und der Vater dem Kulturschock psychisch nicht gewachsen ist und am Ende stirbt. Sein Alltag wird bestimmt durch Schulunterricht beim ungeliebten Rauschebart, der ihn als Zeichenlehrer nicht wirklich fördert, durch Skaten durch Betonburgen, Graffitisprayen am Bahndamm, Kleinkriege mit Skinheads und das Gestalten von Mixtapes, die als Liebeserklärung dienen, wenn man zu schüchtern ist, das Wort zu ergreifen. Das Abkürzungs-Wortspiel im Titel erklärt sich durch Drogenexperimente, die ziemlich weit gehen  unter Vermeidung süchtig machender Rauschgifte. Zugleich zeigt die Geschichte ein Coming-of-Comiczeichner – mit leichtem Strich, raffinierten Farbwechseln und ironischen Bildsymbolen  darunter die geniale Idee vom Beziehungsgespräch zweier auseinander driftender Luftballons –, die das oft gehörte Narrativ dieser Generation erneuern und hintergründig kommentieren.

Nikolaus Gatter

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"Cowboy Jim 1-3"
von Bertram Könighofer
(Selbstverlag)


Er geht gern in Saloon, spart am Adjektiv und sagt Thx, wenn ihm ein Bier gereicht wird. Wird hier in vorbildlicher Weise Witzenergie gespart? Der Schein trügt: Jim gerät mit dem Ku-Klux-Klan und Aliens aneinander, begleitet zwischen den Bierkonsum-Episoden den leibhaftigen Ambrose Gwinnet Bierce (seit 1914 in Mexiko verschollen) auf Schatzsuche durchs geisterhafte Canyonpanorama, wird von Wanderkakteen, preußischen Auftragskillern und einem Furzwitz-Bandenchef verfolgt – und jeder Cliffhanger lässt auf ein Fortsetzung folgt hoffen. Cowboys haben Vorbilder, am Lagerfeuer werden sie aufgezählt, unter ihnen der "glückliche Luke". Zieht dieser schneller als sein Schatten, kippt Jims Schatten die Biergläser auf dem Tresen bereits hinter die Binde, während der Westernheld noch ins Glas schaut. Sein Artwork-Vorbild sind US-amerikanische Underground-Comix der 1960er und 1970er Jahre, die minimalistisch stilisierten Figuren, auf Grundformen wie Rechteck (Gesicht), Dreieck (Halstuch) und liegende 8 (Krempe des Stetson) beschränkt, werden mitunter in raffinierter gestrichelte Landschaften gestellt, Fan-Art von Tommi Kühberger enthält Band 3, in dem Könighofer alle stilistischen Register zieht.

Nikolaus Gatter

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"Irrlicht"
von Michael Mikolajczak
(Selbstverlag)

"Wie sehr schmerzt es mich, dich verloren zu haben, geliebte Anna. Was ist hier bloß passiert? An meinen Händen klebt kein Blut! Nein. Du, und nur du allein hast mich dazu getrieben, hörst du? Oh, Anna! Wie sehr habe ich dich geliebt, Anna  und nun bist du für immer fort. Wie lange schon? Nur wenige Augenblicke, oder sind es doch Jahre, die unbemerkt an mir vorbeigezogen sind? Was ist real, was nur Einbildung? Bin ich wirklich hier? Bist du bei mir, oder sind wir an einem ganz anderen Ort? Sag es mir, Anna." Wenn man "Irrlicht" flüchtig überfliegt, findet man die Arbeit nicht zwingend ansprechend. Die Panels sind schwarz-weiß, die Bilder nichtssagend und scheinbar zufällig gewählt. Man wundert sich. Es fühlt sich eher an, als hätte hier jemand was zusammengepfuscht und zu einem Heft gebunden, um es schnell in den Verkauf zu bringen. "Ein Comic? Das ist doch kein Comic ...", denkt man sich, und dann fängt man an zu lesen und ehe man sich versieht, kann man nicht mehr aufhören.
Die Sprachart, der Aufbau der Panels und die Auswahl der Fotos ergeben ein perfekt auf einander abgestimmtes Ganzes. Die Spannung steigt, ein Twist folgt auf den nächsten  jedoch so gelungen, dass die Geschichte einen Sinn ergibt und den Leser am Ende nachdenklich zurücklässt. "Irrlicht" von Michael Mikolajczak ist nicht der klassische Comic, den man aus dem Bücherladen kennt. Der Einsatz von Schwarzweiß-Fotografie unterstreicht den Storyinhalt, bei dem es um Verlust, tiefsitzende Ängste, Trauerbewältigung und psychische Probleme geht, auf eine einzigartige und gelungene Art und Weise. Eine Arbeit, die den Leser überraschen und tief erschüttern kann, wenn man sich traut, sich darauf einzulassen.

Adroth Rian

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"Madame Choi und die Monster"
von Sheree Domingo, und Patrick Spät
(Edition Moderne)

Nordkorea, späte 60er Jahre. Kim ist ein großer Filmfan. Weil sein Papa ein Diktator ist, bekommt Kim den Job als Leiter der Propaganda-Abteilung und der Filmstudios. Kim verehrt eine südkoreanische Schauspielerin, die in Asien seit den 60er-Jahren Kultstatus genießt: Choi Eun-hee, genannt Madame Choi. Kim liebt Rambo und den verschollenen Film "Bulgasari". Im bizarren Wahn lässt er Choi und den Filmregisseur Shin Sang-ok nach Nordkorea entführen, um den Monsterfilm als "Pulgasari" neu zu drehen. Choi und Shin ergeben sich augenscheinlich dem Zwang und verhalten sich kooperativ, können aber später zurück nach Südkorea fliehen.
Die Berliner ComicKünstlerin Sheree Domingo und der Autor Patrick Spät haben mit "Madame Choi und die Monster" ein vielschichtiges, kluges und lehrreiches Werk geschaffen, welches aufzeigt, was irrsinnige Machtregime anrichten.

Sandra Nußer

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"Die Narrenpritsche"
von Dirk Seliger, Gilbert Schwarz, Sascha Wüstefeld, Jan Suski
(Edition MosaPedia)

Schrill und deftig zeigt das verzopfte Rokoko seine volkstümlich-blanke Kehrseite: Die Abenteuer Hans Wursts, Kasperles und ihrer Zunftgenossen, die Joseph Haydn den puppenspielenden Nichten Stinerl und Maruschka erzählt, werden zur Zeitreise in historischen Kostümen, mit Pferdegetrappel, sangeslustigen Besäufnissen und Marktgeschrei in ulkigen Mundarten. Sensenmann, Prinz Eugen und die Abrafaxe als Sternsinger laufen ebenfalls durchs Bild. Farblich wechseln die Panels zwischen grellbunt und lichtgrau, Kasperleszenen werden verhalten rötlich grundiert, schräge Perspektiven bringen Tempo hinein, dokumentarische Inserts – ein Stammbaum der Haydn-Familie – stillen den Wissendurst. Turbulenz ist Trumpf!

Nikolaus Gatter

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"Tiafe Gschichtn"
von Jonboy Wotton, Robert Maresch, Tomáš Roller, Bert Bricht (d.i. Bertram Könighofer) und Robert Spieß
(Selbstverlag)


Eine aussterbende Art? In einer Welt, in der Instagram-Filter unsere Selbstwahrnehmung und glatt geleckten Friede-Freude-Eierkuchen-Werbeplakate und politisch überkorrekte KI-Textgeneratoren unsere Denke beeinflussen, halten die Zeichner von "Tiafe Gschichtn" mit einer mörderischen Armee von Zombies, Aliens und Killerhäschen dagegen.
Wers bunt mag, wird bei den "Tiafe Gschichtn" vermutlich nicht auf seine Kosten kommen. Wer seine Seele der Dunkelheit verschrieben hat, schon. Denn die Geschichten, die das Heft füllen, sind nicht nur tief, nein – sie sind geradezu unterirdisch. Aber das ist ja auch das Schöne daran: Wer tief gräbt, findet Schätze. Auch auf dem nahegelegenen Friedhof, versteht sich. Oder in einer Ausgabe von "Tiafe Gschichtn". Und ja, Schätze gibt es hier viele, denn jeder Zeichner glänzt mit seinem ureigenen Zeichenstil, anrüchigen Witzen und einer Wortwahl, die man nicht in den Mund nimmt, wenn man seiner Mutti noch ein paar Küsschen auf die Backe drücken will.
Wer auf derben, teils schmutzigen Humor steht, sollte sich "Tiafe Gschichtn" auf jeden Fall mal reinziehen. Die Comicstrips werden euch zwar keine schlaflosen Nächte bereiten – weil wir als Leser solcher Werke die wahren Edgelords und Edgeladies der Finsternis sind und einfach keine Angst mehr vor Gore und Fäkalhumor haben – aber den einen oder anderen boshaften Lacher wird euch das Heft mit Sicherheit entlocken. Ein bisschen Rot würde den Heften allerdings nicht schaden. Wo bleibt denn das eingetrocknete Blut auf den so sauber bedruckten Blättern, ihr Partisanen des schwarzen Humors? Das möchte ich gern gut eingesogen auf den Seiten der nächsten Ausgabe von "Tiafe Gschichtn" sehen!

Adroth Rian

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Die Jury

Die vierköpfige Jury besteht aus dem Comic-Autor und -Zeichner Dirk Seliger (u.a. "Luzian Engelhardt", "Gambert"), der Zeichnerin Adroth Rian, Sandra Nußer (Creative Director) und Nikolaus Gatter (Schriftsteller, Übersetzer, Publizist, Germanist, Musikkritiker und Liedermacher).
20 Jahre ICOM Independent Comic Preis
Aus Anlaß des 20jährigen Jubiläums des Independent-Preises druckte der ICOM 2014 dieses Poster mit allen Preisträgern. Ein höherauflösendes PDF findet man, wenn man auf die obige Abbildung klickt.